Maerchenerzaehler
spiegelte sich in den Pfützen auf dem Schulhof, gleißend, blendend.
Alles war heller geworden, beinahe gefährlich hell.
Bei den Fahrradständern hatte sich eine Horde von Fünft- oder Sechstklässlern versammelt. Anna sah zu, wie Abel sein Rad aufschloss. Sie hatte noch so viele Fragen, sie musste sie jetzt stellen, rasch, ehe dieses Gespräch zu Ende ging, ehe Abel Tannatek sich wieder in die anonyme, geduckte Gestalt mit den Ohrstöpseln verwandelte, in den polnischen Kurzwarenhändler, den die anderen mit einem Spitznamen versehen hatten wie mit einer Hülle, die sie davor schützte, den Inhalt berühren zu müssen.
»Warum hast du nichts gesagt, als sie die Puppe durch die Luft geworfen haben?«, fragte Anna. »Warum hast du gewartet, bis die anderen weg waren?«
Er schob sein Fahrrad rückwärts aus dem Gewirr der anderen Fahrräder heraus. Er war schon fast fort, schon fast nicht mehr dort, wo Anna sich befand, schon fast wieder in seiner eigenen Welt.
»Sie hätten es nicht verstanden«, sagte er. »Es geht auch niemanden etwas an.«
Inklusive mir, dachte Anna.
Abel holte den uralten Walkman aus der Tasche seines Militärparkas und entwirrte die Kabel.
Warte!, wollte Anna rufen.
»Hörst du tatsächlich die Onkelz?«, fragte sie und nickte zu seinem Pullover hin, dessen weiße Aufschrift man unter der nicht ganz geschlossenen Jacke sah.
Da lächelte er wieder. »Wie alt bin ich, zwölf?«
»Aber … der Pullover …«
»Geerbt«, sagte Abel knapp. »Er ist warm. Das ist die Hauptsache.«
Er gab ihr einen Ohrstöpsel. »White noise«, sagte er.
Anna hörte nichts als knisterndes, lautes Rauschen. White noise , das, was ein Radio ausspuckt, das keinen Empfang hat. »Es hilft, die anderen fernzuhalten«, sagte Abel, nahm ihr den Ohrstöpsel weg und stieg auf sein Rad. »Wenn man denken möchte.«
Und dann fuhr er weg und Anna stand da und alles war anders als zuvor.
White noise .
Sie fragte Gitta nicht nach dem alten Schlitten mit dem roten Band. Sie fuhr allein zum Meer, später, als es schon dämmerte. In der Dämmerung am Meer war es am leichtesten, sich über die eigenen Gedanken klar zu werden, sie vor sich im Sand auszubreiten und sie zu ordnen. Es war gar kein richtiges Meer. Nur der Bodden, seichtes Flachwasser. Wenn es wirklich zufror, konnte man hinüberlaufen zur Insel Rügen.
Anna stand lange am verlassenen Strand von Eldena und sah aufs Wasser hinaus, das eine Eishaut bekam. Es war jetzt glatt, poliert, es glänzte wie die Dielen zu Hause, gebohnert und abgeschliffen von der Zeit.
Das Haus war alt, seine hohen Räume atmeten Vergangenheit. Es stand in der Fleischervorstadt, zwischen anderen alten Häusern, verfallen und grau zu sozialistischen Zeiten, renoviert und herausgeputzt nach der Wende. Seltsam, an diesem Tag hatte sie das Haus auf ganz andere Weise gesehen. Als ginge sie nicht alleine durch die hohen Räume, sondern mit Abel Tannatek an ihrer Seite.
Sie sah die hohen Bücherregale mit seinen Augen, die Sessel, die dicken, sichtbaren Balken in der Küche, die Bilder an den Wänden, modern, schwarz-weiß, unerkennbar, den Kamin im Wohnzimmer, den Strauß von Winterzweigen auf dem großen Esstisch. Alleswar schön, schön wie auf einem Bild, unberührbar und unwirklich schön.
Sie ging mit Abel an ihrer Seite die breite hölzerne Innentreppe hinauf in ihr Zimmer, wo der Notenständer am Fenster stand. Sie versuchte, Abel Tannatek aus ihrem Kopf zu schütteln, die schwarze Mütze, den alten Militärparka, den geerbten Pullover, die verblichene Puppe. Sie wog die Querflöte in der Hand. Auch die Querflöte war schön.
»Ich werde Musik studieren«, sagte Anna laut in den Raum. »Vielleicht. Auch das ist zu schön … zu …«
Aber sie wusste nicht, zu was. Und die silbernen Töne der Querflöte klangen verkehrt an diesem Tag. Sie ertappte sich dabei, wie sie versuchte, der Flöte etwas ganz anderes zu entlocken, etwas Unmelodisches und Disharmonierendes, etwas gewaltsam Kratzendes und Widerspenstiges: white noise .
Die Querflöte schien sich in ihren Händen zu winden, sie begriff nicht, was man von ihr wollte. Vor dem Fenster hatte der Nachmittag sich dunkelblau auf den Garten gelegt, jenen Hinterhofgarten, in dem sie so viele Sommer lang mit Gitta gesessen und gelacht hatte. Als sie jetzt das Fenster öffnete, hörte sie die Spatzen in den vertrockneten Ranken des Geißblatts, das neben ihrem Fenster die Wand überzog. Im Sommer würde es wieder blühen und es
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