Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
haben Sie dort herausgefunden?«
Maigret dachte einen Augenblick nach.
»Gleich zu Anfang sind mir die Möbel aufgefallen und die ganze Einrichtung. In Léontine Faverges’ Personalausweis stand, dass sie keinen Beruf hat. Sie lebte von einer kleinen Rente und hatte Cécile Perrin in Pflege, um die sich ihre Mutter, die Animierdame in einem Nachtlokal ist, nicht persönlich kümmern konnte.«
Diese Mutter, Juliette Perrin, hatte er beim Betreten des Saals in der ersten Reihe der Zuhörer sitzen sehen, denn sie trat als Nebenklägerin auf. Sie hatte rotgefärbte Haare und trug einen Pelzmantel.
»Sagen Sie uns genau, was Ihnen an der Wohnung aufgefallen ist.«
»Der ungewöhnliche und besondere Einrichtungsstil, der mich an gewisse Wohnungen aus der Zeit vor dem Gesetz über die Prostitution erinnert hat. Die Atmosphäre im Wohnzimmer zum Beispiel wirkte zu kuschelig, mit einer Fülle von Teppichen und Kissen, und an den Wänden hingen Stiche mit galanten Szenen. Die Lampenschirme waren in sanften Farben gehalten, ebenso die beiden Schlafzimmer, in denen überdurchschnittlich viele Spiegel hingen. Später habe ich erfahren, dass Léontine Faverges ihre Wohnung tatsächlich früher für Schäferstündchen zur Verfügung gestellt hat. Nach dem Inkrafttreten der neuen Gesetze hat sie noch eine Zeitlang damit weitergemacht. Das Sittendezernat hat sich schließlich mit ihrem Fall beschäftigt, aber sie war erst nach mehreren Geldstrafen bereit, ihre Aktivitäten einzustellen.«
»Konnten Sie herausfinden, wovon sie gelebt hat?«
»Nach Aussagen der Concierge, der Nachbarn und aller, die sie gekannt haben, hatte sie Ersparnisse, denn sie hat immer sehr sparsam gelebt. Sie war eine Schwester der Mutter des Angeklagten und ist als geborene Meurant mit achtzehn nach Paris gekommen, wo sie eine Zeitlang als Verkäuferin in einem Kaufhaus gearbeitet hat. Mit zwanzig hat sie einen Handelsvertreter namens Faverges geheiratet, der drei Jahre später bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Das Ehepaar wohnte zu diesem Zeitpunkt in Asnières. Dann soll die junge Frau ein paar Jahre lang die Brasserien in der Rue Royale frequentiert haben, die Sittenpolizei hat ihre Akte gefunden.«
»Haben Sie überprüft, ob sich unter ihren damaligen Bekanntschaften jemand befand, der sich kürzlich an sie erinnert haben könnte und ihr übel mitspielen wollte?«
»Sie galt in ihren Kreisen als Einzelgängerin, was ziemlich selten vorkommt. Sie hat Geld beiseitegelegt, deshalb konnte sie sich später die Wohnung in der Rue Manuel einrichten.«
»Sie war zum Zeitpunkt ihres Todes zweiundsechzig Jahre alt, stimmt’s?«
»Ja. Sie hatte ziemlich zugenommen, aber soweit ich es beurteilen kann, besaß sie noch immer eine jugendliche Ausstrahlung und eine Spur Koketterie. Nach den Aussagen der Zeugen, die ich vernommen habe, hing sie sehr an dem kleinen Mädchen, das sie in Pflege genommen hatte, weniger wegen der paar Francs, die ihr das einbrachte, sondern wahrscheinlich mehr aus Angst vor der Einsamkeit.«
»Hatte sie ein Konto bei einer Bank oder Sparkasse?«
»Nein. Sie war misstrauisch gegenüber Banken, Notaren und jeder Art von Geldanlage und hat deshalb alles, was sie besaß, zu Hause aufbewahrt.«
»Ist in ihrer Wohnung Geld gefunden worden?«
»Nur ein bisschen Kleingeld, kleinere Scheine in einer Handtasche und ein bisschen Wechselgeld in einer Küchenschublade.«
»Hatte sie ein Versteck, und haben Sie es entdeckt?«
»Anscheinend, ja. Wenn Léontine Faverges krank war, was in den letzten Jahren zwei- oder dreimal vorgekommen ist, kam die Concierge hoch und hat sich um Haushalt und Kind gekümmert. Auf einer Kommode im Wohnzimmer stand eine chinesische Vase mit künstlichen Blumen. Eines Tages hat die Concierge die Blumen herausgenommen, um sie abzustauben, und dabei auf dem Boden der Vase einen kleinen Leinensack entdeckt, in dem offenbar Goldmünzen waren. Dem Umfang und dem Gewicht nach, behauptet die Concierge, mussten es mehr als tausend sein. Wir haben in meinem Büro tausend Goldmünzen in einen Leinensack gefüllt, um diese Angaben zu überprüfen. Demnach scheint ihre Aussage zu stimmen. Ich habe die Angestellten der verschiedenen Banken in der Umgebung befragen lassen. In der Zweigstelle des Crédit Lyonnais erinnern sich die Bankangestellten an eine Frau, auf die die Personenbeschreibung von Léontine Faverges zutrifft und die mehrmals Aktien gekauft haben soll. Einer der Kassierer, ein gewisser Durat, hat
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