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Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht

Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht

Titel: Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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    Wie oft war er hier schon gewesen? Zweihundertmal, dreihundertmal oder noch öfter? Er hatte keine Lust, es nachzuzählen oder sich an jeden einzelnen Fall zu erinnern, nicht einmal an die berühmtesten Fälle, die in die Kriminalgeschichte eingegangen waren, denn das hier war der unangenehmste Teil seiner Tätigkeit.
    Aber endeten nicht die meisten seiner Ermittlungen wie heute beim Schwurgericht oder vor der Strafkammer? Er hätte sich diesen Abschnitt lieber erspart, zumindest hätte er diese letzten Formalitäten gerne von sich ferngehalten, denn er hatte sich nie wirklich daran gewöhnen können.
    In seinem Büro am Quai des Orfèvres war der Kampf, der meist in den frühen Morgenstunden zu Ende ging, noch ein Kampf, der unter Menschen ausgetragen wurde, gewissermaßen auf Augenhöhe.
    Man brauchte nur durch ein paar Flure zu gehen, ein paar Treppen hochzusteigen, und schon sah alles ganz anders aus, man betrat eine andere Welt, in der die Worte nicht mehr den gleichen Sinn hatten; man tauchte ein in ein abstraktes, hierarchisch gegliedertes Universum, das feierlich und abgeschmackt zugleich wirkte.
    Gerade hatte er zusammen mit anderen Zeugen den dunkel getäfelten Gerichtssaal verlassen, in dem sich das künstliche Licht der Kugelleuchten mit dem Grau eines regnerischen Nachmittags vermischte. Der Gerichtsdiener, von dem Maigret hätte schwören können, dass er schon immer so alt ausgesehen hatte, führte sie wie ein Lehrer seine Schüler in einen kleineren Raum und zeigte auf die festmontierten Wandbänke.
    Die meisten nahmen gehorsam Platz, befolgten die Anweisungen des Vorsitzenden Richters, sprachen kein Wort und trauten sich nicht einmal, ihren Banknachbarn anzusehen.
    Angespannt und verschlossen starrten sie vor sich hin und behielten ihr Geheimnis für den feierlichen Augenblick, in dem sie bald allein inmitten des eindrucksvollen Raums ihre Aussage machen würden.
    Maigret dachte unwillkürlich an eine Sakristei. In seiner Kindheit, als er noch Messdiener in der Dorfkirche war, hatte er die gleiche Beklommenheit empfunden, wenn er darauf wartete, dem Pfarrer zu dem von flackernden Kerzen beleuchteten Altar zu folgen. Er hörte die Schritte der unsichtbaren Gläubigen, die ihre Plätze einnahmen, und das Kommen und Gehen des Küsters.
    Genauso konnte er jetzt die rituelle Zeremonie verfolgen, die jenseits der Tür vollzogen wurde. Er kannte die Stimme des Vorsitzenden Bernerie, des pedantischsten und kleinlichsten aller Richter, der vielleicht aber auch am gewissenhaftesten und leidenschaftlichsten bemüht war, die Wahrheit herauszufinden. Er war mager, sah schlecht aus und ähnelte mit seinen fiebrigen Augen und seinem trockenen Husten einem Heiligen auf einem Kirchenfenster.
    Dann ertönte die Stimme des Staatsanwalts Aillevard, der die Anklage vertrat.
    Darauf näherten sich Schritte; es war der Gerichtsdiener, der die Tür des Sitzungssaals einen Spaltbreit öffnete und rief:
    »Polizeikommissar Segré!«
    Segré, der sich nicht gesetzt hatte, warf Maigret einen Blick zu und ging im Mantel und mit seinem grauen Hut in der Hand in den Verhandlungssaal. Die anderen schauten ihm einen Moment nach, dachten daran, dass auch sie bald an der Reihe sein würden, und fragten sich ängstlich, wie sie sich verhalten sollten.
    Durch die unerreichbaren Fenster, die so hoch angebracht waren, dass man sie mit Hilfe eines Seilzugs öffnen und schließen musste, sah man ein Stück des farblosen Himmels, und im künstlichen Licht wirkten die Augen in den Gesichtern der Anwesenden wie leere Schatten.
    Es war heiß, aber es schickte sich nicht, seinen Mantel auszuziehen. Es gab gewisse Spielregeln, auf deren Einhaltung jeder hinter der Tür großen Wert legte, und es spielte keine Rolle, dass Maigret von nebenan kam, durch die Flure des dunklen Palais de Justice: Er trug einen Mantel wie alle anderen und hielt seinen Hut in der Hand.
    Es war Oktober. Der Kommissar war erst vor zwei Tagen aus dem Urlaub nach Paris zurückgekommen, das in einem nicht enden wollenden Regen versank. Er war mit einem Gefühl in seine Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir und dann in sein Büro zurückgekehrt, das er schwer hätte beschreiben können und das ihn teils heiter, teils melancholisch stimmte.
    Wenn der Vorsitzende ihn gleich nach seinem Alter fragte, würde er antworten:
    »Dreiundfünfzig …«
    Das bedeutete, dass er vorschriftsgemäß in zwei Jahren pensioniert werden würde.
    Er dachte oft daran, und bisher hatte er sich

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