Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
sie anhand ihres Fotos identifiziert.«
»Es ist also wahrscheinlich, dass sich sowohl die Aktien als auch die Goldstücke in der Wohnung befanden. Aber Sie haben nichts gefunden?«
»Nein, Herr Vorsitzender. Wir haben natürlich nach Fingerabdrücken gesucht, an der chinesischen Vase, an den Schubladen und auch sonst überall in der Wohnung.«
»Und Sie haben nichts gefunden?«
»Nur die Abdrücke der beiden Bewohner und in der Küche die eines Botenjungen, dessen Alibi jedoch überprüft worden ist. Er hatte zum letzten Mal am Morgen des siebenundzwanzigsten etwas gebracht. Nach Doktor Pauls Ansicht, der die Autopsie der beiden Leichen vorgenommen hat, ist das Verbrechen am siebenundzwanzigsten Februar zwischen fünf und acht Uhr abends begangen worden.«
»Haben Sie alle Bewohner des Hauses verhört?«
»Ja, Herr Vorsitzender. Sie haben die Aussagen der Concierge bestätigt, demnach hat Léontine Faverges außer ihren beiden Neffen keinen einzigen Mann empfangen.«
»Würden Sie jetzt bitte etwas zum Angeklagten, Gaston Meurant, und seinem Bruder Alfred sagen?«
»Nach Aussage der Concierge ist Gaston Meurant ziemlich regelmäßig ein- oder zweimal im Monat zu ihr gekommen, sein letzter Besuch lag etwa drei Wochen zurück. Der Bruder Alfred Meurant hingegen hat sich nur selten in der Rue Manuel blicken lassen, da er bei seiner Tante nicht gern gesehen war. Als ich die Schneiderin Solange Lorris vernommen habe, die auf derselben Etage wohnt, habe ich erfahren, dass eine ihrer Kundinnen am siebenundzwanzigsten Februar um halb sechs zu ihr zur Anprobe gekommen ist. Sie heißt Madame Ernie und wohnt in der Rue Saint-Georges. Sie behauptet, dass in dem Augenblick, als sie die Treppe hochging, ein Mann aus der Wohnung der Toten gekommen sei. Als er sie gesehen hat, ging er nicht nach unten, wie er offensichtlich vorhatte, sondern machte kehrt und ging in den dritten Stock. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil das Treppenhaus schlecht beleuchtet war. Ihrer Meinung nach hatte der Mann einen marineblauen Anzug und einen braunen Regenmantel mit Gürtel an.«
»Sagen Sie uns, wie Sie den Kontakt zum Angeklagten aufgenommen haben.«
»Während meine Leute und ich am Nachmittag des achtundzwanzigsten Februar noch einmal die Wohnung durchsucht und angefangen haben, die Mieter des Hauses zu vernehmen, meldeten die Abendzeitungen bereits den Mord und lieferten eine Reihe von Einzelheiten.«
»Moment. Wie ist denn der Mord entdeckt worden?«
»Am Mittag des achtundzwanzigsten Februar hat sich die Concierge gewundert, dass sie weder Léontine Faverges noch das kleine Mädchen gesehen hatte, das sonst immer in einen Kindergarten in der Nähe ging. Deshalb ist sie nach oben gegangen und hat geklingelt. Da sich nichts rührte, ist sie etwas später noch einmal hochgegangen, aber es hat wieder niemand aufgemacht, und daraufhin hat sie die Polizei angerufen. Um auf Gaston Meurant zurückzukommen: Die Concierge wusste lediglich, dass er Bilderrahmen anfertigt und beim Friedhof Père-Lachaise wohnt. Ich brauchte ihn nicht suchen zu lassen, denn am nächsten Morgen …«
»Also am ersten März …«
»Ja. Am nächsten Morgen ist er freiwillig zum Polizeirevier des neunten Arrondissements gekommen, hat sich als der Neffe des Opfers vorgestellt, und der Kommissar hat ihn zu mir geschickt …«
Bernerie gehörte nicht zu den Richtern, die sich Notizen machen oder während der Verhandlung ihre Post erledigen. Er schlief auch nicht ein. Stattdessen wanderte sein Blick unaufhörlich zwischen dem Zeugen und dem Angeklagten hin und her, wobei er gelegentlich zu den Geschworenen hinübersah.
»Schildern Sie uns so genau wie möglich Ihr erstes Gespräch mit Gaston Meurant.«
»Er hatte einen grauen Anzug und einen beigefarbenen, ziemlich abgenutzten Regenmantel an. Die Tatsache, in meinem Büro zu sitzen, schien ihn irgendwie einzuschüchtern, und ich hatte den Eindruck, dass seine Frau ihn zu diesem Besuch gedrängt hat.«
»Hat sie ihn begleitet?«
»Sie ist im Wartezimmer geblieben. Einer meiner Inspektoren hat mir Bescheid gesagt, und ich habe sie hereingebeten. Meurant hat gesagt, dass er die Zeitungen gelesen hat und dass Léontine Faverges seine Tante ist. Da er und sein Bruder der Ansicht waren, die einzigen Angehörigen zu sein, hat er es für seine Pflicht gehalten, sich zu melden, wie er mir gesagt hat. Ich habe ihn gefragt, welches Verhältnis er zu der alten Dame hatte, und er hat mir geantwortet, dass sie
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