Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Aber nein, was sage ich denn? Das ist ja nicht möglich, wo der Selbstmord heute nacht erst passiert ist! … Kennen Sie irgendwelche Landsleute hier in Bremen? … Nein? Also, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann … Darf ich Sie zum Aperitif einladen?«
Wenig später folgte Maigret ihm hinaus und nahm Platz in dem Auto, das sein Begleiter selbst steuerte.
Und dieser redete in einem fort. Er war der Prototyp des fidelen, betriebsamen Unternehmers, schien jedermann zu kennen, grüßte hierhin und dorthin, wies auf Gebäude und erläuterte:
»Sehen Sie, da, der Norddeutsche Lloyd! Sie haben bestimmt von deren neuestem Passagierdampfer gehört … Das sind Kunden von mir!«
Er zeigte auf ein Bürohaus, wo fast jedes Fenster ein anderes Firmenschild trug, und erklärte:
»Im vierten Stock links können Sie mein Büro sehen!«
Auf den Scheiben stand in Porzellanbuchstaben: Joseph van Damme, Makler, Import-Export.
»Können Sie sich vorstellen, daß ich manchmal einen ganzen Monat lang keine Gelegenheit habe, Französisch zu sprechen? Meine Angestellten und selbst meine Sekretärin sind Deutsche. Die Arbeit verlangt es nun einmal …«
Es wäre schwierig gewesen, von Maigrets Gesicht, das alles andere als Scharfsinn zu verraten schien, einen einzigen Gedanken abzulesen. Er stimmte allem bei, bewunderte, was man ihm als bewundernswert pries, einschließlich des Autos, dessen Patentfederung van Damme besonders hervorhob.
Zusammen betraten sie ein großes Bierlokal, dicht gefüllt mit Geschäftsleuten, die gegen den Hintergrund einer unermüdlichen Wiener Kapelle und klirrender Bierkrüge geräuschvolle Unterhaltungen führten.
»Was meinen Sie, wie viele Millionen diese Kundschaft hier schwer ist?« kam es begeistert von van Damme. »Hier, hören Sie! … Sie verstehen kein Deutsch? Der Herr am Nachbartisch ist gerade dabei, eine Ladung Wolle, die noch auf hoher See zwischen Australien und Europa schaukelt, zu verkaufen. Er hat dreißig oder vierzig solcher Schiffe laufen. Ich könnte Ihnen andere zeigen … Was trinken Sie? Das Pilsener kann ich empfehlen … Übrigens …«
Der jähe Übergang entlockte Maigret nicht einmal ein Lächeln.
»Übrigens, was halten Sie von diesem Selbstmord? Ein armer Teufel, wie die hiesigen Zeitungen behaupten?«
»Möglich …«
»Stellen Sie Ermittlungen über ihn an?«
»Nein. Das ist Sache der deutschen Polizei, und da kein Zweifel darüber besteht, daß es sich um Selbstmord handelt …«
»Natürlich! … Also wissen Sie, das Ganze interessiert mich eigentlich nur deshalb, weil es sich um einen Franzosen handelt; es kommt so selten mal einer hier in den Norden rauf.«
Er erhob sich, um einem Gast, der im Begriff war, das Lokal zu verlassen, die Hand zu schütteln, setzte sich dann wieder mit den Worten:
»Entschuldigen Sie, aber das war der Direktor einer großen Versicherungsgesellschaft. Er ist seine paar hundert Millionen wert! Aber sagen Sie, Herr Kommissar, es ist fast zwölf – darf ich Sie zum Essen einladen?
Leider kann ich Sie nur ins Restaurant bitten, ich bin Junggeselle. So wie in Paris werden Sie zwar nicht speisen, aber ich will trotzdem versuchen, Ihnen etwas halbwegs Annehmbares vorzusetzen.
Sie sind doch einverstanden, ja?«
Er rief den Kellner und zahlte. Und die Bewegungen, die er beim Hervorziehen der Brieftasche ausführte, waren die gleichen, die Maigret so oft bei Geschäftsleuten seines Schlages in der Umgebung der Bourse beobachtet hatte, wo sie den Aperitif einnahmen; eine unnachahmliche Gestik, ein Sichweitzurücklehnen verbunden mit einem stolzen Wölben des Brustkastens und einem Herabdrücken des Kinns, um mit selbstgefälliger Nachlässigkeit dies geheiligte Objekt, das mit Geldscheinen vollgepfropfte Lederetui aufzuschlagen.
»Gehen wir!«
Erst gegen fünf überließ van Damme den Kommissar wieder sich selbst, nicht ohne ihn zuvor mit in sein Büro geschleppt zu haben, zu den drei Angestellten und der Stenotypistin.
Außerdem hatte er Maigret noch das Versprechen abgenommen, falls dieser Bremen nicht am selben Tag verlassen sollte, den Abend mit ihm in einem bekannten Nachtklub zu verbringen.
Draußen in der Menge fand sich der Kommissar wieder allein mit seinen Gedanken, die alles andere als klar waren. Vielleicht konnte man das alles eigentlich gar nicht Gedanken nennen …
Im Geiste sah er zwei Gestalten vor sich, zwei Männer, zwischen denen er eine Verbindung herzustellen suchte.
Denn eine
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