Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
sollen, wenn er nicht vorgehabt hatte, sie zu essen?
Und wozu die tagelange Bahnfahrt von Brüssel her, wo er sich ebensogut wie in einem deutschen Hotel eine Kugel in den Kopf hätte jagen können?
Blieb der Koffer, der vielleicht des Rätsels Lösung enthielt. Und so schloß der Kommissar sich denn in sein Zimmer ein, als man die nackt in ein Laken gehüllte Leiche in ein amtliches Fahrzeug verfrachtet und fortgeschafft hatte, nachdem sie untersucht, fotografiert, von Kopf bis Fuß einer gründlichen Prüfung unterzogen worden war.
Maigret sah abgespannt aus, und wenngleich er sich mit dem mehrmaligen, leichten Daumendruck langjähriger Gewohnheit eine Pfeife stopfte, so war das doch bloß ein Versuch, sich selbst von seiner Seelenruhe zu überzeugen.
Das abgezehrte Gesicht des Toten ließ ihm keine Ruhe. Immer wieder sah er ihn vor sich, wie er mit den Fingern schnalzte und ohne jeden Übergang den Mund weit aufriß, um hineinzuschießen.
So mächtig war dies unbehagliche, Gewissensbissen nicht unähnliche Gefühl, daß es ihn erhebliche Überwindung kostete, den Kunststoffkoffer auch nur zu berühren.
Und doch mußte gerade dieser Koffer seine Rechtfertigung enthalten! Sollte sein Inhalt ihm nicht den Beweis dafür liefern, daß der Mann, dessen Schicksal ihn derartig zu rühren vermochte, ein Gauner war, ein gefährlicher Verbrecher, womöglich gar ein Mörder?
Die Schlüssel hingen noch genauso wie in dem Laden der Rue Neuve an einer um den Griff geknoteten Schnur. Maigret hob den Deckel auf, nahm zuerst einen dunkelgrauen Anzug heraus, der weniger abgetragen war als der, den der Tote angehabt hatte.
Darunter lagen zwei zusammengeknüllte, schmutzige, an Kragen und Manschetten durchgescheuerte Hemden sowie ein loser Kragen mit feinen rosa Streifen, der mindestens vierzehn Tage getragen worden sein mußte, so schwarz war er an der Stelle, die mit dem Hals seines Besitzers in Kontakt gekommen war – richtig schwarz und abgewetzt!
Das war alles! Nur noch der Kofferboden aus grünem Papier bot sich dem Blick und die beiden unbenutzt gebliebenen Gurte mit ihren glänzenden Spangen und Ringen.
Maigret schüttelte die Kleider aus, durchsuchte die Taschen. Sie waren leer.
Eine unerklärliche Angst preßte ihm die Kehle zusammen, ließ ihn hartnäckig weitersuchen, getrieben von dem Drang, der Notwendigkeit, irgend etwas zu entdecken.
Hatte denn nicht ein Mann Selbstmord verübt, weil ihm dieser Koffer gestohlen worden war? Ein Koffer, der nichts als einen alten Anzug und schmutzige Wäsche enthielt …!
Nicht ein Blatt Papier! Nicht die Spur von einem Schriftstück! Nicht einmal ein Anhaltspunkt, um Vermutungen über die Vergangenheit des Toten anzustellen!
Die Wände des Zimmers waren frisch tapeziert, und die grellen Farben der billigen Tapete ließen das Blumenmuster aggressiv erscheinen. Die Möbel dagegen waren abgenutzt, wacklig, drohten aus den Fugen zu gehen, und auf dem Tisch lag eine Chintzdecke, die man nur mit Abscheu zu berühren vermochte.
Die Straße war leer, die Läden der kleinen Geschäfte verriegelt, aber an der hundert Meter entfernten Kreuzung rauschte der Verkehr unablässig, mit beruhigender Eintönigkeit vorüber.
Maigret sah hin zu der Verbindungstür, dem Schlüsselloch, durch das er nicht mehr zu gucken wagte. Ihm fiel ein, daß die Leute vom Erkennungsdienst die Umrisse des Toten vorsorglich auf den Fußboden des Nachbarzimmers gezeichnet hatten.
Den zerdrückten Anzug aus dem Koffer überm Arm tappte er auf Zehenspitzen hinüber, um die anderen Hotelgäste nicht zu wecken – vielleicht aber auch, weil das Geheimnis auf ihm lastete.
Die Silhouette am Boden war unförmig, aber die Ausmaße stimmten genau.
Als er sich bemühte, Jacke, Hose und Weste daraufzulegen, erhellten sich seine Augen, gruben sich seine Zähne unwillkürlich in den Pfeifenstiel.
Ein jedes Kleidungsstück war mindestens drei Nummern zu groß! Sie gehörten nicht dem Toten.
Das, was der Landstreicher so mißtrauisch in seinem Koffer hütete, was für ihn so viel Wert besaß, daß er sich das Leben nahm, als er es verlor, war der Anzug eines anderen!
2
Monsieur van Damme
Die Bremer Zeitungen brachten lediglich die kurze Notiz, ein Franzose mit Namen Louis Jeunet, von Beruf Maschinenschlosser, habe in einem Hotel der Stadt Selbstmord verübt. Das Motiv sei vermutlich seine wirtschaftliche Notlage gewesen.
Am nächsten Morgen jedoch, als diese Zeilen erschienen, entsprach die Nachricht schon nicht
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