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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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mehr ganz der Wahrheit. Beim Durchblättern des Reisepasses nämlich war Maigret etwas Merkwürdiges aufgefallen.
    Auf der für die Personenbeschreibung vorgesehenen Seite sechs, wo Alter, Körpergröße, Haarfarbe, Stirn, Augenbrauen und so weiter untereinander aufgeführt werden, erschien das Wort Stirn vor dem Wort Haarfarbe statt danach.
    Nun hatte die Pariser Sûreté aber sechs Monate zuvor in Saint-Ouen eine regelrechte Fälscherwerkstatt entdeckt, wo Reisepässe, Soldbücher, Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer und dergleichen amtliche Bescheinigungen hergestellt wurden. Eine Anzahl der Dokumente hatte beschlagnahmt werden können, die Fälscher selbst jedoch hatten gestanden, daß sich hunderte der von ihnen gedruckten Papiere seit Jahren schon im Umlauf befänden und sie mangels Buchführung nicht imstande seien, eine Liste ihrer Kunden aufzustellen.
    Sein Paß bewies, daß Louis Jeunet zu diesen Kunden gehört hatte und folglich gar nicht Louis Jeunet hieß.
    Somit entfiel die einzige halbwegs verläßliche Grundlage für Nachforschungen. Der Mann, der sich in dieser Nacht das Leben genommen hatte, war nur noch ein Unbekannter.
     
    Es war neun Uhr, als der Kommissar mit sämtlichen amtlichen Vollmachten ausgerüstet beim Leichenschauhaus erschien, wo vom Zeitpunkt der Öffnung an jedermann freien Zutritt haben würde.
    Vergeblich sah er sich nach einem als Beobachtungsposten geeigneten Winkel um, wenngleich er sich nicht allzuviel von diesem Unternehmen versprach. Das Leichenschauhaus war – wie fast die ganze Stadt und jedes öffentliche Gebäude – in modernem Stil gebaut.
    Es mutete dadurch noch unheimlicher an als die altmodische Pariser Leichenhalle am Quai de l’Horloge. Unheimlicher gerade wegen der Übersichtlichkeit seiner Linien und Flächen, dem einheitlichen Weiß der Wände, die das grelle Licht reflektierten, den auf Hochglanz polierten Kühlanlagen, die an ein Elektrizitätswerk erinnerten.
    Der Vergleich mit einer hochmodernisierten Fabrik drängte sich auf, einer Fabrik, deren Rohmaterial menschliche Körper waren!
    Der falsche Louis Jeunet lag dort, weniger entstellt als man erwartet hätte, denn die Experten hatten sein Gesicht annähernd naturgetreu rekonstruiert.
    Außer ihm waren da noch eine junge Frau und ein im Hafen angetriebener Ertrunkener.
    Der vor Gesundheit strahlende, in eine blitzsaubere Uniform gezwängte Aufsichtsbeamte ließ an einen Museumswächter denken.
    Im Verlauf einer Stunde traten wider Erwarten so um die dreißig Personen durch die Tür, und als eine Frau eine Leiche zu sehen wünschte, die nicht ausgestellt war, vernahm man das Schrillen elektrischer Klingeln, Nummern wurden telefonisch durchgerufen.
    Daraufhin setzte sich eine der Schubladen eines riesigen, die ganze Wand einnehmenden Schrankes im ersten Stock in Bewegung, glitt auf einen Aufzug, und kurz danach kam ein Stahlbehälter im Erdgeschoß zum Vorschein – so wie die Bücher in manchen Bibliotheken in den Lesesaal gelangen.
    Es war die richtige Leiche. Die Frau beugte sich über sie, schluchzte auf und wurde nach hinten in ein Büro geführt, wo eine junge Schreibkraft ihre Erklärung zu Protokoll nahm.
    Kaum jemand interessierte sich für Louis Jeunet. Gegen zehn Uhr jedoch stieg ein elegant gekleideter Mann aus einem Privatwagen und betrat den Saal, wo er den Selbstmörder mit einem Blick ausfindig machte, ihn aufmerksam betrachtete.
    Maigret stand nicht weit von ihm. Beim Nähertreten unterzog er den Besucher einer genaueren Prüfung und bekam den Eindruck, daß er kein Deutscher sei.
    Als der andere den Kommissar auf sich zukommen sah, zuckte er zusammen, wurde verlegen und schien sich über Maigret die gleichen Gedanken zu machen wie dieser vorher über ihn.
    »Sind Sie Franzose?« fragte er.
    »Ja. Sie auch?«
    »Belgier … Aber ich wohne seit Jahren hier.«
    »Und Sie kannten jemand mit dem Namen Jeunet?«
    »Nein. Ich … ich habe nur heute morgen in der Zeitung gelesen, daß ein Franzose in Bremen Selbstmord begangen hat, und da ich lange in Paris gelebt habe … Es war Neugier. Ich wollte ihn mir nur mal ansehen …«
    Wie immer in solchen Augenblicken hatte die Ruhe Maigrets etwas absolut Unerschütterliches, nahmen selbst seine Züge einen derart sturen Ausdruck an, bekundeten einen solchen Mangel an Scharfsinn, daß man unwillkürlich an ein Rindvieh erinnert wurde.
    »Sie sind von der Polizei, ja?«
    »Ja, Kriminalpolizei …«
    »Und Sie sind extra deshalb hergekommen? …

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