Make it count - Gefühlsgewitter (German Edition)
die sein werde, die ich war. Tränen fluten meine Augen und laufen über meine Wangen. Ich weine lautlos. Und obwohl diese Frau neben mir steht, diese Frau, die mich lieben sollte, die ich lieben sollte, bin ich allein. Mutterseelenallein. Sie sieht aus wie ich. Sie ist wie mein Spiegelbild mit kurzen Haaren, zu dünnen Lippen und der falschen Augenfarbe. Ich spüre ihren Blick, die Fragen, die auf ihrer Zunge liegen, die sie sich nicht zu fragen traut. Das Mitgefühl, das sie mir geben will, aber nicht kann. Ich stehe in der Eingangshalle der Frau, die uns nicht wollte. Die mich nicht wollte. Der Frau, die sich für den Banker mit der Festung entschieden hat. Von der nie auch nur eine Geburtstagskarte kam oder ein Anruf. In der Eingangshalle meiner Mutter. Und alles, wonach ich mich sehne, sind seine Arme, die mich halten. Aber das werden sie nicht. Gordon Williams ist tot. Sonst wäre ich nicht hier.
Mit der freien Hand wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Kann ich etwas-...“
„Es geht schon“, schneide ich ihr das Wort ab. Meine feste Stimme gaukelt Stärke vor, wo keine ist. Aber woher soll Mrs. MacDougall das wissen? Sie kennt mich nicht. „Ich bin müde von der Fahrt. Ich würde mich gerne ausruhen.“
Sie räuspert sich und schluckt. „Sicher, das verstehe ich.“
Du verstehst einen Scheißdreck, denke ich, sage aber nichts. Stattdessen folge ich ihr in einen langen Korridor, der mich mit seinen vielen Türen an ein nobles Hotel erinnert. Vor der letzten Tür auf der rechten Seite bleibt Mrs. MacDougall stehen und öffnet sie.
Strahlendes Sonnenlicht dringt durch die riesigen Fenster und badet den Raum in Wärme. Ein King-Size-Bett mit zehntausend Kissen, weiße Bettwäsche, daneben zwei Nachtkästchen, ein Flachbildfernseher, zwei gerahmte Schwarzweiß-Fotografien an der hellgrauen Wand über dem großen Schreibtisch. Überall verteilt Kerzen in kleinen Gläsern, die einen frischen zitronigen Duft verströmen, eine kleine Bank am Fußende des Bettes, ein Schaukelstuhl. Und zwei Türen. Die eine führt zweifelsohne in mein eigenes Ensuite-Badezimmer mit allem nur erdenklichen Luxus, die zweite in den begehbaren Wandschrank, den ich für meine drei Jeans und die vier Karohemden kaum brauchen werde. Mein Blick wandert über den Holzboden. Seine Patina erzählt eine alte Geschichte und gibt dem Raum ein Mindestmaß an Charakter. Das riesige Bett thront auf einem weißen Teppich. Die frischen Schnittblumen auf dem Sideboard sorgen neben den Kissen für farbige Akzente. Alles bis ins kleinste Detail durchdacht. Alles sehr geschmackvoll. Nur leider ohne Seele. Eben wie in einem Hotel. Ich lebe von nun an in der Deluxe-Suite. Das Einzige, was den Hotelcharakter durchbricht, sind eine kuschelige Lese-Ecke mit Polstern und Kissen am Fuße eines der Fenster und ein deckenhohes Regal voll mit Büchern.
„Gordon, also ich meine, dein Vater, hat mir erzählt, wie gerne du liest, deswegen habe ich dir diese Ecke hergerichtet... und dir einen Teil der Bibliothek ins Regal gestellt...“ Mrs. MacDougall gibt sich Mühe. Sie strengt sich richtig an. „Du kannst natürlich auch in der Bibliothek lesen.“
„Die Hauptsache ist wohl, ich lese “, sage ich bitter.
„So habe ich das nicht gemeint“, antwortet sie und schüttelt den Kopf.
Ich gehe auf das Regal zu, die Reisetasche wie ein zusätzlicher Körperteil in meiner Hand. Ich kann sie nicht loslassen. Sie ist das einzig Reale in diesem Moment. Ein Stück aus der alten Welt. Ich atme an dem stechenden Schmerz in meiner Brust vorbei und studiere die Titel. Einige davon gehören zu meinen Allzeit-Favoriten. „Warum gerade diese Bücher?“
„Mir haben die Titel gefallen.“
„Aber du hast sie nicht gelesen“, stelle ich trocken fest.
„Nein, das habe ich nicht.“ Ich höre etwas in ihrer Stimme. Vielleicht Scham. „Und hier...“ Sie zeigt auf die Fenster, geht auf eines zu und öffnet es. „Auf diesem Dach kann man in der Sonne sitzen und das Leben genießen...“ Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt, räuspert sie sich. „Tut mir leid, das war unpassend... ich meinte nur... vielleicht willst du dich mal raussetzen...“ Sie kommt auf mich zu. In ihren blauen Augen schimmern Tränen. Ich bin froh, dass ich seine Augenfarbe habe. Warm. Wie flüssige Schokolade. „Du hast seine Augen.“
„Ich weiß.“
Einen Moment stehen wir nur da und schauen einander an. Bis das Unbehagen sie falsch lächeln und die Stille brechen
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