Mit reinem Gewissen
Aushöhlung des demokratischen Rechtsstaats durch Wehrmachtjuristen?
Ein unbekanntes Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik
Die zeitgeschichtliche Forschung hat in den letzten Jahren einiges Licht in die Kontinuität deutscher Funktionseliten über die Zäsur von 1945 hinaus gebracht. Vereinzelt ist auch darauf hingewiesen worden, dass Wehrmachtjuristen in der Bonner Republik eine zweite Karriere machen konnten.
Die Herausgeber haben die für sie überraschende Entdeckung gemacht, dass sich in Deutschland derzeit nicht wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen mit Aspekten des Fortwirkens ehemaliger Juristen der NS-Diktatur auseinandersetzen. Den geeigneten Anlass, die Forschungen zusammenzuführen und zu einem Austausch ihrer Ergebnisse anzuregen, bot das Symposium »Der Kampf um die Vergangenheit. Das Wirken ehemaliger Wehrmachtjuristen im demokratischen Rechtsstaat aus der Sicht der Opfer«, das am 17. und 18. April 2010 im Leibniz-Haus der Universität Hannover stattfand. Es wurde veranstaltet zu Ehren des Gründers des Forums Justizgeschichte, Helmut Kramer, der die Geschichte der NS-Justiz und die Nachkriegskarrieren NS-belas teter Juristen seit Langem ins Zentrum seiner Forschungen gestellt hat und der wahrscheinlich der beste Kenner der Materie ist.
Gefördert und unterstützt wurde das Symposium von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, vom Forum Justizgeschichte e. V., von der Redaktion der Kritischen Justiz, vom Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., von der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, vom Arbeitskreis Historische Friedensforschung und von der Holtfort-Stiftung.
|10| Da die Wehrmachtjustiz 1945 ihr Ende fand und nach der Gründung der Bundeswehr im Jahre 1955 keine neue Militärjustiz ins Leben gerufen wurde, vollzog sich das Weiterwirken ehemaliger Wehrmachtjuristen nicht im institutionellen Rahmen einer militärischen Sonderjustiz, sondern hauptsächlich in anderen Bereichen der bundesdeutschen Justiz.
Während der Tagung wurde die berechtigte Frage gestellt, weshalb dieses Thema nicht schon vor drei oder vier Jahrzehnten untersucht worden sei, als die ehemaligen Militärjuristen noch in hohen Ämtern des demokratischen Staates tätig waren, allen voran der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger. Ein Grund war und ist zweifellos die prekäre Quellenlage. An viele Personalunterlagen kamen die Historiker nicht oder nur schwer heran. Allerdings spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass der Einfluss der aus der NS-Zeit überkommenen Funktionselite der Militärjuristen auf die Geschichte der zweiten Republik beträchtlich war und eine kritische Beschäftigung mit der Materie behinderte.
Es hat mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, bis sich die Forschung mit der Geschichte bestimmter Funktionseliten des NS-Staates beschäftigte, und noch länger, bis eine größere Öffentlichkeit von den Resultaten Notiz nahm. Dies geschah meist erst dann, als jene Funktionseliten aus dem Amt geschieden waren. Erinnert sei an die Geschichte der Wehrmacht, an die Rolle von Historikern, Medizinern, Germanisten, von Mitarbeitern der Max-Planck-Gesellschaft und Vertretern anderer akademischer Disziplinen in der NS-Diktatur, ebenso an die Geschichte des Bundeskriminalamts, des Bundesnachrichtendienstes und neuerdings an die Geschichte des Auswärtigen Amts.
Das umfangreiche Werk von Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann »Das Amt und die Vergangenheit« (München 2010) beschreibt die Rolle des Auswärtigen Amts in der NS-Zeit sowie die Nachkriegskarrieren von NS-Diplomaten. Ungeachtet früherer, nur begrenzt wahrgenommener Studien wie der von Hans-Jürgen Döscher wurde mit großer öffentlicher Wirkung dargestellt, in welchem Umfang » |11| Das Amt« durch diplomatische Abschirmung und eigenes Handeln den NS-Staat gestützt und insbesondere durch die Einwilligung in die Deportation für eine Etappe im Prozess der Vernichtung der Juden verantwortlich war. Zumindest ebenso großes Aufsehen erregte der Befund der Historiker, dass 1951, als das Auswärtige Amt wieder gegründet wurde, zwei Drittel der führenden Diplomaten ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, dass sie über ein wirkungsvolles Netzwerk verfügten, mit dessen Hilfe sie die eigenen Leute protegierten und gleichzeitig Wege fanden, externe Konkurrenten, die im Widerstand gegen Hitler gestanden hatten oder aus Deutschland emigriert waren, den
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