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Mann Ohne Makel

Titel: Mann Ohne Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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unter dem Tisch verborgen hielt. Er warf Stachelmann über die Zeitungskante hinweg einen scharfen Blick zu. Dann faltete er die Zeitung zusammen und schob sie über den Tisch. »Bitte sehr!«, sagte er krächzend und stand auf. Er lächelte. Stachelmann glaubte, Spott in dem Lächeln zu erkennen. Als hätte der Mann Stachelmanns wiederholte Bekundung gehört, dieses Blatt fasse er, wenn überhaupt, nur vor dem Händewaschen an und dann auch nur mit zwei Fingern. Der Mann verließ das Großraumabteil. Der Zug hielt in Bad Oldesloe.
    Als er wieder zu rollen begann, schlug Stachelmann die Titelseite auf und las die Geschichte. Der Makler wohnte wie andere reiche Hamburger mit seiner Familie nahe der Elbchaussee. Vor zwei Jahren hatten Spaziergänger seine Frau erschlagen im Duvenstedter Brook gefunden. Vor einem Jahr war der zehnjährige Sohn im Schwimmbad vergiftet worden. Jetzt war auch Valentina tot, der Makler und ein vierjähriger Sohn blieben als Einzige übrig. Jedes Jahr ein Mord.
    Stachelmann überlegte, wie würde er sich fühlen nach einem solchen Schlag? Er lebte allein in einer kleinen Wohnung in Stietens Gang, der von der Lichten Querstraße abzweigte, die wiederum die Dankwartsgrube mit der Hartengrube verband. In der Altstadtidylle zwischen Mühlenteich und Stadttrave fühlte er sich manchmal einsam. Aber dann las er Geschichten von verschleppten und ermordeten Kindern. Oder von einem Hamburger Makler, den Reichtum und Ansehen nicht davor schützten, seine Frau und zwei Kinder zu verlieren. Was man nicht hat, kann man nicht verlieren. Und man muss keine Angst darum haben.
    Natürlich erreichte der Zug den Hamburger Hauptbahnhof einige Minuten zu spät. Stachelmann nahm die S-Bahn zum Dammtor. Den Rest des Wegs zur Universität lief er zu Fuß. Er schwitzte, es war schon heiß an diesem Vormittag. Es war Montag, der 9. Juli 2001. Bald würde das Sommersemester zu Ende sein. Dann würden das alte Hauptgebäude und die Betonklötze am Von-Melle-Park, auf die Hamburgs Universität verteilt ist, wieder entvölkert sein.
    Renate Breuer winkte mit einem Zettel, als Stachelmann die grün lackierte Stahltür ihres Büros aufstieß.
    »Ein Anruf für Sie, vor fünf Minuten«, sagte sie, als handelte es sich um etwas Besonders. Für Renate Breuer war fast alles aufregend, obwohl sie schon so viele Jahre als Sekretärin des Historischen Seminars im Philosophenturm arbeitete. Auf dem Zettel standen eine Telefonnummer und ein Name: »Oskar Winter«. Stachelmann setzte sich hinter den Schreibtisch in seinem kleinen Arbeitszimmer und schaute auf den Zettel. Er musste nicht lange überlegen. Oskar Winter, ja, das war Ossi. Wer sonst? Sie hatten gemeinsam studiert in Heidelberg und außerdem versucht, die Weltrevolution anzufachen. Stachelmann griff zum Telefonhörer.
    ***
    Der alte Mann atmete schwer. Immer wieder hielt er an beim Gehen. Er trug einen hellbeigen Anzug aus festem Tuch, der aus einem besseren Geschäft in Pöseldorf stammen mochte. Ein Schlips in einer unbestimmbaren Mischfarbe passte zum Anzug wie zu den schweren braunroten Schuhen. Der Mann nahm sich sonderbar aus unter all den sommerlich bekleideten Passanten. Schließlich hatte er den U-Bahnhof Kellinghusenstraße erreicht. Erschöpft sank der Mann auf eine Sitzbank, sie war blau und schwarz beschmiert mit Schrift und Zeichnungen. Fuck you! las der Mann auf der Rücklehne der Bank gegenüber. In der U-Bahn war es auszuhalten. Durch geöffnete Fenster strich ein Luftstrom. Er kühlte, obwohl er warm war. An den Landungsbrücken war der Mann wieder ausgeruht. Er stieg um in die S 1 nach Blankenese. Dieser Weg war weiter, aber er sparte ein Umsteigen.
    In Blankenese stieg er aus. Er ging gemächlichen Schritts die Dockenhudener Straße hinunter. Er musste haushalten mit seiner Kraft. Ein Auftrag noch. Eigentlich waren es ja zwei gewesen, aber dann hatte er entschieden, seine Sache verlöre ihren Sinn, wenn es keinen mehr gab, der trauerte. Als er die Gätgensstraße erreichte, ging er Richtung Elbe, zum Hirschpark. Am Naturdenkmal setzte er sich auf eine Bank. Erstaunlich, wie viele junge Menschen an einem frühen Mittwochnachmittag Zeit fanden zu bummeln. Möwen vertrieben Tauben und Spatzen im Kampf um Brotkrumen, die Kinder ihnen hinwarfen. Er setzte seinen Marsch fort, erreichte den Elbuferweg und betrachtete die Fracht- und Passagierschiffe auf dem Strom, die den Hafen anliefen oder verließen, Richtung England, Amerika, Asien. Möwen kreisten am

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