Mann Ohne Makel
I
Der Schmerz schoss ins linke Knie. Er unterdrückte einen Aufschrei und blieb stehen. Der Schmerz ließ nach, er ging langsam weiter. Als er die Puppenbrücke überquerte, hatte er das Stechen vergessen.
Das gar nicht so alte Postgebäude neben dem Bahnhof wurde abgerissen. Was von ihm blieb, wartete als eine Ansammlung von Steinen und Geröll darauf, von schweren Lastwagen weggefahren zu werden. Es staubte. Ein Mauerrest mit Fenster stand am Rand der Grube.
Der Bahnhof war älter als das Postgebäude, aber alle Versuche, ihn zu erneuern, wurden aufgeschoben. Erst wenn die letzte Berliner S-Bahn-Station in einen Miniaturpalast verwandelt war, durften die Lübecker hoffen, dass aus dem finsteren Gewölbe mitten in der Stadt ein neuer Hauptbahnhof entstand.
Stachelmann stieß eine Schwingtür am Eingang auf und ging durch die düstere Halle zum Gleis 9, wo der Zug nach Hamburg wartete. Er setzte sich in einen Großraumwagen der ersten Klasse mit blauen Sitzbänken. Am anderen Ende saß am Fenster eine ältere Frau, ein grüner Damenhut mit Silberkettchen ragte über die Rückenlehne des Sitzes vor ihr. Die Lichtanzeige an der Decke des Wagens war ausgefallen. Stachelmann setzte sich auf die Bank am Tisch. Er nahm aus seiner Aktentasche Simone Wagners Hausarbeit, er hatte sie gestern Abend müde weggelegt. Die Arbeit untersuchte die Hypothesen zum Reichstagsbrand im Februar 1933. Wer waren die Brandstifter? Waren es die Nazis? Waren es die Kommunisten? War es der Einzelgänger van der Lubbe? Stachelmann mochte Simone Wagner, sie hatte lebhafte Augen und interessierte sich wirklich für Geschichte. Sie schrieb flott und konnte mit Quellen umgehen. Jedenfalls bei anderen Themen. Beim Reichstagsbrand tappte sie in die Falle.
Weil der Brand den Nazis nutzte und wie bestellt ausbrach, mussten sie ihn gelegt haben. Die Geschichte ist oft launisch. Manchmal fügt sie Ereignisse zusammen, wie sonst nur ein Verschwörer es vermocht hätte. Die Leute glaubten dann lieber an einen Verschwörer als an den Zufall. Wenn man es so will, dann ist der Zufall der größte Verschwörer, dachte Stachelmann und beugte sich wieder über Simone Wagners Arbeit. Er würde ihre Thesen bestreiten und ihr eine Zwei geben, für die Mühe, die sie sich gegeben hatte. Und er würde am Beispiel ihrer Arbeit darstellen, dass die Geschichtswissenschaft zwar politische Überzeugungen zum Gegenstand hat, dass diese aber zur Meinungsbildung möglichst wenig beizutragen hätten. Das war leicht gesagt und schwer getan.
Die Waggontür schlug zu, ein Mann betrat schwer das Großraumabteil und setzte sich gegenüber an den Tisch. Stachelmann zog die Hausarbeit näher an sich heran. Der Mann atmete pfeifend, als wäre sein Hals eng. Mit einem Taschentuch wischte er sich Schweiß von der Stirn. Er legte eine Plastiktüte mit dem Aufdruck eines Supermarkts auf den Tisch, stand auf und öffnete ein Fenster im Gang. Ein Pfiff, der Zug ruckelte und rollte los. Der Mann setzte sich, er schnaufte einmal tief. Er schaute sich um, musterte Stachelmann einige Sekunden und zog dann eine Bild-Zeitung aus der Plastiktüte. Er hustete und faltete die Zeitung auf.
Er hielt Stachelmann die Titelseite vors Gesicht. »Tragödie einer Familie« stand da in dicken roten Buchstaben, schwarz und kleiner darunter: »Hamburger Makler (46) verzweifelt – nun auch Tochter (6) tot. Es war Mord!« Ein Schwarzweißfoto zeigte einen Mann mit einer Hand vor den Augen. Daneben ein Farbfoto, ein Mädchen mit blonden Zöpfen, darunter ein Text: »Valentina Holler (6) vergiftet wie ihr Bruder – Opfer eines Serienkillers?«
Was heißt »nun auch tot«?, fragte sich Stachelmann. Er versuchte, den Text des Artikels unter den Überschriften zu lesen. Der Mann gegenüber blätterte um und schaute Stachelmann einen Augenblick durchdringend an. Statt der Familientragödie hatte Stachelmann jetzt eine barbusige Blondine vor der Nase, die ihn aus den Augenwinkeln musterte. Daneben stand: »Sandra weiß, was sie will.« Stachelmann war egal, was Sandra wollte. Er wollte wissen, was der Familie des Maklers geschehen war. Aber auf Sandra folgten Berichte über das letzte Wochenende der Fußballbundesliga, die hinter Sandras Rücken darauf gewartet hatten, umgeblättert zu werden. Während der Mann sich mit pfeifendem Atem Sandra widmete, las Stachelmann über die Krise des Hamburger Sportvereins, wenigstens das, was auf der oberen Hälfte der Seite stand, da der Mann den Rest der Zeitung nun
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