Marathon Mosel
und trank zwei Gläser Wasser. Übermäßigen Durst hatte er nicht, aber er musste viel trinken. Auch das gehörte zu Laufguru Steffens’ Anweisungen. Und jede Menge Kohlenhydrate, weil die Energiespeicher aufgeladen werden mussten. Obwohl es gar nicht möglich war, sie so weit zu füllen, dass es für die gesamte Distanz von zweiundvierzig Kilometern reichen würde. Aber der Mann mit dem Hammer, wie der tote Punkt in Marathonkreisen genannt wurde, an dem die Kohlenhydrate zu Ende waren und der Körper auf Fettreserven umstellte, würde auf jeden Fall kommen. Nur vielleicht etwas später und nicht ganz so brutal, wenn er gut trainiert und ernährt war.
Er schenkte sich das dritte Glas ein.
Das Telefon klingelte. Gleichzeitig gurgelten die letzten Tropfen durch die Kaffeemaschine. Harry kam mit einer Papiertüte in der Hand zur Tür herein.
Auf dem Display erkannte Walde die Nummer des Polizeipräsidenten. Wenn er nicht ranging, kam Stiermann womöglich gleich persönlich herüber. Es war nervend, das Büro auf der gleichen Etage wie der Chef zu haben. Walde biss dennoch zuerst in eins der belegten Brötchen aus Harrys Tüte, bevor er den Hörer abnahm.
»Ja?«, meldete er sich mit vollem Mund.
»Herr Bock?«
Walde kaute und schluckte: »Ja, Herr Präsident.« Der Chef wurde gern so angesprochen und Walde tat ihm den Gefallen.
»Stör ich?«
»Ich esse gleich weiter.«
»Die Presse möchte Informationen. Was denken Sie, wann wir ein erstes Statement abgeben können?«
»Heute nicht mehr. Wenigstens sollte zuerst die Witwe informiert und die Spurensicherung durch sein. Am Obduktionsergebnis wäre mir auch gelegen.«
»Warum ist die Ehefrau des Opfers noch nicht verständigt?«
»Wir haben sie zu Hause nicht angetroffen.«
»Und auf der Arbeit?«
»Sie ist Hausfrau.«
»Und beim Einkaufen?«
Walde schüttelte genervt den Kopf: »Es gibt hier allein fünfzig Friseure und noch mal so viele Schuhgeschäfte und Boutiquen.«
»Morgen früh, zehn Uhr?«
»Was?«
»Die Pressekonferenz.«
Walde seufzte. »In Ordnung.«
»See you.«
Walde biss ein großes Stück von seinem Brötchen ab. »Keine Frage nach Täter oder Motiv. Als wäre die Benachrichtigung von Presse und Witwe das einzige, was wir zu tun hätten. Am besten sollten wir eine Hundertschaft auf die Suche schicken.«
»Die Friseure könnten wir uns sparen«, sagte Harry.
»Warum?«
»Heute ist Montag. Da haben die meisten zu.«
*
Auf den Straßen der Innenstadt war es am späten Vormittag ruhig. Ben war mit dem Rad unterwegs. In den großen Packtaschen lagen nur eine halb gefüllte Wasserflasche und ein Döschen mit Reifenflickzeug. Immer wenn er in eine neue Straße einbog, steigerte er seine Aufmerksamkeit und versuchte, sich die Örtlichkeit zu merken. Die meisten Autofahrer verhielten sich rücksichtsvoll. Nur selten überholte ihn jemand mit knappem Abstand. Er war von zu Hause weit Schlimmeres gewohnt.
Im Viertel hinter dem Dom waren die Straßen eng und wie ausgestorben. Nur vereinzelt traf er zwischen den hohen Mauern der Kurien auf Autos oder Fußgänger. Im Vorbeifahren entdeckte er in einer abzweigenden Gasse den dort geparkten orangefarbenen Lieferwagen. Er stand mitten auf der schmalen Straße. Die Plane am rückwärtigen Teil der Ladefläche war zurückgeschlagen. Dahinter eskortierten auf den Boden gestellte weiß-rot gestreifte Kunststoffzylinder jeweils links und rechts ein Warnschild. Ben lenkte sein Fahrrad zwischen zwei der spitzen Hütchen hindurch und lugte in das Loch hinunter, das gefährlich im Asphalt klaffte. In die Wand eingelassene Metallsprossen führten ins Dunkel hinab. Ein gusseiserner Deckel mit einem Ornament darauf lag daneben. Die Bremsen des Fahrrads gaben einen unangenehmen Ton von sich, der Ben an das Schreien eines Kamels erinnerte. Er bremste mit den Füßen ab und kam neben dem Kanaldeckel zum Stehen. Das kaum mehr erkennbare Motiv darauf zeigte einen bärtigen alten Mann, der etwas in der Hand hielt, das wie ein Werkzeug aussah. Vielleicht war es der Heilige der Kanalarbeiter.
Von unten kam ein Laut, als stieße Metall auf Metall.
Ben stieg wieder auf sein Rad. Hinter sich hörte er das Scharren von Schuhen auf den Sprossen.
An der Ecke musste Ben abermals bremsen. Eine Gruppe Jugendlicher, wahrscheinlich eine Schulklasse, kam ihm entgegen und schien sich nicht von einem Fahrradfahrer aus der breiten Formation bringen lassen zu wollen. Ben schaute sich um. Der Kombi verdeckte ihm die Sicht.
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