Marathon
für
wen?
Gröber zog sich
die Schuhe aus und trat sie gegen die Kommode neben die drei
anderen Paare. Jeden Abend der gleiche Gang: Vom Flur ging's zum
Kühlschrank, um ein paar Einkäufe einzuräumen und
sich eine Flasche Kölsch herauszuholen, mit der er sich dann
auf das große Sofa in seinem Wohnzimmer schmiss. Dort
saß er dann eine ganze Stunde, ohne irgendetwas zu tun, und
dachte nur darüber nach, was er denn nun mit dem angefangenen
Abend anfangen sollte. Er hatte sich in seiner Einsamkeit
häuslich eingerichtet, konnte das Elend, das ihn
regelmäßig ob dieser Einsamkeit überkam, regelrecht
inszenieren. Meist trank er dann zu viel.
Die besseren der
langen Abende verbrachte er in seiner Kneipe auf der Ecke, wo er
dem »rasanten Verfall der Kölner Eckkneipenkultur«
zusah, wie er gelegentlich nach zehn bis fünfzehn Bier ein
kleines Referat für ein feines, ausgewähltes Publikum am
Tresen nannte. Der Vortrag begann mit dem Rückblick auf die
Zeit, als er hier eingezogen war und jeden Abend noch ein Dutzend
Menschen zumeist höheren Alters in der Wirtschaft zählen
konnte. Ab und zu kamen ein paar Zugezogene und spielten Billard an
dem gut gepflegten Tisch, der unter zwei schummerigen Lampen mit
Fransenschirm aufgebaut war. Man sprach über dies und das,
Politik, Fußball, selten über Frauen, häufiger
über die Aspekte des Lebens, in denen Ehefrauen keine Rolle
spielten. Dann schwadronierte man herum, spekulierte, lachte und
wusste doch wenig. Er hielt sich zurück, hätte er doch
mit einer Bemerkung wie »Seid froh, dass ihr eine habt«
an solchen Abenden mehr Gespött als Verständnis auf sich
gezogen.
Im Laufe der letzten
Monate waren es immer weniger geworden, die sich am Tresen trafen.
Einer, nach dessen Namen er nie gefragt hatte, war gestorben, ein
anderer, so hieß es, sehr krank geworden. Andere kamen
seltener, nachdem der Wirt den Kölschpreis erhöht
hatte.
»Leute, ich kann
nicht mehr.« So hatte er stöhnend die Preiserhöhung
begründet und alle ahnen lassen, was Gröber den letzten
Gästen seiner Kneipe mit dem Ton eines Predigers voraussagte,
der auf der Schildergasse die Menschen vor der kommenden Apokalypse
warnte. Auch diese Eckkneipe werde über kurz oder lang ein
schicker Trendladen mit so genanten Lounges, in denen Kinder in
Sperrmüllmöbeln herumlungern, denen die Hosen so weit
unterm Beckenknochen hängen, dass man Arschgeweihe und
Poritzen bewundern kann, wenn sie sich nach ihrem
heruntergefallenen Handy bücken. Dazu würde es
Flaschenbier geben, schlecht gemixte Cocktails, aber immerhin gute
Musik von einem Diskjockey. Das wäre noch die bessere
Perspektive für seine Eckkneipe. Im schlimmsten Fall, dozierte
er, würden in das schöne, alte, kölsche
Nachbarschafts-Wohnzimmer wie an vielen anderen Stellen in der
Stadt auch Imbissläden oder andere systemgastronomische
Geschmacksverirrungen einziehen.
Er räkelte sich
auf dem Sofa, trank sein Bier und entwickelte Ideen für seine
Geburtstagsparty. Man müsste etwas ganz Besonderes tun. Mit
einem Paukenschlag sein Leben ändern. Das könnte
amüsant werden. Seine Energie endlich mal auf die wirklich
wesentlichen Dinge des Lebens richten und nicht mehr mit
Unwichtigem vergeuden. Wie viel Zeit verplemperte er mit Gedanken
an Kleinigkeiten wie darauf zu achten, dass nichts
Übriggelassenes im Kühlschrank verschimmelte, dass alle
Rechnungen gezahlt wurden, die Preise von
Haftpflichtversicherungen zu vergleichen oder einen Garderobenhaken
wieder festzudübeln?
Johannes Oehlen fiel
ihm ein, der alte Schulfreund, der mit Herzinfarkt am Kaffeetisch
zusammengebrochen und nie wieder aufgestanden war. Das Bild des
Toten im Kofferraum schoss ihm durch den Kopf. Der dürfte
nicht viel älter gewesen sein. Was, wenn von jetzt auf gleich
alles vorbei war? Wenn er noch ein paar Sekunden Zeit hätte,
um darüber nachzudenken, was er in all diesen vergeudeten
Lebensjahren mit sich angefangen hatte? Mit welchem beschissenen
Gefühl würde er dann abtreten von dieser Welt?
Doch was sollte man
ändern, wenn man noch nicht einmal eine Frau hatte, die man
verlassen könnte? In jedem Fall müsste man die
große Veränderung mit irgendwas ganz Verrücktem
einleiten, auch um sich selbst den Weg zurück in den
Alltagstrott eines Polizeibeamten zu versperren. Ihm fiel nichts
Richtiges ein. Würde der Polizeipräsident kommen, wenn er
ihn einlud? Dann könnte er ihn während einer großen
Geburtstagsparty zu seinem Vierzigsten vor den Augen
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