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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Ganzen?«
    Sie tauschten einen kurzen Blick, und zum ersten Mal spürte ich die Maßlosigkeit ihres Ehrgeizes und die Unschuld ihres Glaubens.
    »Wer sonst weiß das noch?«
    »Es wird kund werden«, sagte einer von ihnen.
    »Durch eure Worte?«, fragte ich.
    »Durch unsere Worte und die Worte seiner Jünger.«
    »Du meinst«, sagte ich, »der Männer, die ihm folgten?«
    »Ja.«
    »Sind die noch am Leben?«
    »Ja.«
    »Sie hielten sich versteckt, als er starb«, sagte ich. »Sie hielten sich versteckt, als er starb.«
    »Sie waren da, als er auferstand«, sagte einer von ihnen.
    »Sie sahen sein Grab«, sagte ich. »Ich habe sein Grab nie gesehen, ich habe seinen Leib nie gewaschen.«
    »Du warst da«, sagte mein Führer. »Du hieltest seinen Leib, als er vom Kreuze abgenommen wurde.«
    Sein Gefährte nickte.
    »Du sahst uns zu, als wir seinen Leib mit Spezereien bedeckten und seinen Leib in leinene Tücher banden und ihn in ein Grab legten nahe der Stätte, wo er gekreuzigt wurde. Doch du warst nicht bei uns, du warst an einem Ort, wo du geschützt warst, als er drei Tage nach seinem Tode unter uns erschien und zu uns sprach, ehe er aufstieg zu seinem Vater.«
    »Seinem Vater«, sagte ich und lächelte.
    »Er war der Sohn Gottes«, sagte der Mann, »und er wurde von seinem Vater ausgesandt, die Welt zu retten.«
    »Durch seinen Tod schenkte er uns das Leben«, sagte der andere. »Durch seinen Tod erlöste er die Welt.«
    Da wandte ich mich zu ihnen, und was immer in meinem Gesichtsausdruck gewesen sein mag – die Wut gegen sie, der Kummer, die Angst –, sie sahen beide erschrocken zu mir auf, und einer von ihnen begann, auf mich zuzukommen, als wollte er mich davon abhalten, das zu sagen, was ich jetzt sagen wollte. Ich rückte von ihnen ab und blieb in der Ecke stehen. Ich flüsterte es erst, und dann sagte ich es lauter, und als er sich von mir entfernte und sich fast in die andere Ecke duckte, flüsterte ich es noch einmal, langsam, sorgfältig, legte meinen ganzen Atem hinein, mein ganzes Leben – das bisschen, was davon in mir verblieben ist.
    »Ich war dort«, sagte ich. »Ich floh, bevor es vorbei war, aber wenn ihr Zeugen braucht, dann bin ich eine Zeugin, und wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert.«
    Sie brachen in jener Nacht mit einer Karawane auf, die auf dem Weg zu den Inseln war, und in ihrem Ton und ihrem Betragen lag eine neue Distanz zu mir – etwas, das der Angst nahe kam, aber vielleicht noch mehr einer puren Verzweiflung und Abscheu. Aber sie ließen mir Geld da und Vorräte, und sie hinterließen in mir das Gefühl, dass ich weiterhin unter ihrem Schutz stand. Es war nicht schwer, höflich zu ihnen zu sein. Sie sind keine Dummköpfe. Ich bewundere, wie bedachtsam sie sind, wie genau ihre Pläne funktionieren, wie hingebungsvoll sie sind, wie anders im Vergleich zu der Gruppe von unrasierten Rüpeln und Zitterern, Männern, die keine Frau ansehen konnten, die nach dem Tod meines Mannes in mein Haus kamen und bei meinem Sohn saßen und die ganze Nacht durch Unsinn redeten. Sie werden fett werden und obsiegen, und ich werde sterben.
    Ich gehe nicht mehr in die Synagoge. All das ist vorbei. Ich würde bemerkt werden; meine Fremdheit würde auffallen. Doch ich gehe mit Farina zum anderen Tempel, und manchmal gehe ich auch allein hin, morgens gleich nach dem Aufwachen oder später, wenn Schatten über die Welt kommen und von der Nacht künden. Ich bewege mich leise. Ich spreche im Flüsterton zu ihr, der großen Göttin Artemis, die freigebig, mit ihren ausgestreckten Armen und den vielen Brüsten darauf wartet, jene zu nähren, die zu ihr kommen. Ich erzähle ihr, wie sehr ich mich jetzt danach sehne, in der trockenen Erde zu schlafen, mit geschlossenen Augen friedvoll zu Staub zu zerfallen, an einem Ort hier in der Nähe, wo es Bäume gibt. Bis es so weit ist, möchte ich, wenn ich nachts aufwache, mehr. Ich möchte, das, was geschah, wäre nicht geschehen, hätte einen anderen Verlauf genommen. Wie leicht hätte es nicht geschehen sein können! Wie leicht hätten wir verschont bleiben können! Es hätte nicht viel erfordert. Schon der Gedanke an dessen Möglichkeit tritt jetzt in meinen Körper wie eine neue Freiheit. Er lichtet die Dunkelheit und verscheucht den Kummer. Es ist so, als ob ein Reisender nach tagelangem Wandern durch eine trockene Wüste, einem Ort ohne jeglichen Schatten, erschöpft den Gipfel eines Hügels

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