Marionetten
gehorcht und ihn unterm Arm gepackt, denn er schien ihr zu schwanken, und sie dachte, es müsse ein Anfall irgendeiner Art sein und gleich würde er umkippen.
Aber er kippte nicht um.
Zu ihrer Erleichterung fing er sich wieder, ohne freilich die Augen von der Straße zu wenden: Augen, aus denen Grauen und ein gepeinigtes Erkennen sprachen; die Augen eines Mannes, der seine schlimmsten Ängste wahr werden sieht. Sie bemerkte auch, daß er seinen mageren Kopf zwischen die Schultern duckte wie zum Schutz vor Schlägen, die von hinten auf ihn einprasselten, dabei stand kein Mensch hinter ihm.
An Abdullah vorbei suchte sie Issas Blick, um ihre Besorgnis mit ihm zu teilen, aber er starrte in dieselbe Richtung wie Abdullah, und dann sah auch sie endlich, was die beiden sahen, auch wenn der Anblick sie nicht sofort mit dem gleichen Entsetzen erfüllte wie Abdullah.
Sicher, seit sie für Fluchthafen arbeitete, kannte sie Berichte von Menschen, die bei der Abschiebung in Zwangsjacken gesteckt oder erst mit Schlägen gefügig gemacht werden mußten. Und bis an ihr Lebensende würde das Bild von Magomed sie verfolgen, der ihr aus dem Fenster des startenden Flugzeugs zuwinkte.
Aber darin erschöpften sich ihre Erfahrungen auch schon, und deshalb vermochte ihr Verstand die unvorstellbare und doch durch und durch konkrete Tatsache gar nicht schnell genug zu erfassen: daß sich nämlich auf dem Vorplatz nicht einfach ein komplizierter Verkehrsunfall ereignet hatte, in den ein geparktes Taxi und zwei aus dem Nichts aufgetauchte Mercedes mit getönten Scheiben verwickelt waren, sondern daß der weiße Minibus, der den Unfall eindeutig verursacht hatte, mit weit geöffneten Türen neben ihr stand und daß zu diesen Türen in aller Ruhe vier, nein, fünf Männer in Sturmhauben, schwarzen Trainingsanzügen und Turnschuhen herausstiegen.
Und weil sie so langsam von Begriff war, hatten sie leichtes Spiel. Sie rissen Abdullah von ihrer Seite weg, so blitzschnell wie bei einem Handtaschenraub, während sich Issa, dem rohe Gewalt um einiges geläufiger war, verzweifelt an seinen Mentor klammerte, ihn mit seinen dürren Armen umschlang, ja sich mit ihm zusammen auf die Knie sacken ließ, um ihn noch besser zu beschützen.
Aber nur so lange, bis die vier oder fünf Maskierten einen Ring um die beiden Männer bildeten – eine »Schildkröte« wie die römischen Soldaten in Annabels altem Lateinbuch – und sie halb zu dem Minibus trugen, halb schleiften, sie hineinwarfen, hinterhersprangen und die Türen zuknallten, damit keiner sie störte.
Brue kam angestürzt, laut auf englisch hinter den Maskierten herrufend, und sie fragte sich, warum plötzlich auf englisch. Dann wurde ihr bewußt, daß die Maskierten abgehackte Flüche in amerikanischem Englisch geblafft hatten, was erklärte, wieso Brue sie auf englisch anschrie, obwohl er sich die Puste hätte sparen können, so wenig beachteten sie ihn.
Und vielleicht war es Brues Auftauchen an ihrer Seite, was sie wieder zur Besinnung brachte und wie eine Verrückte zu dem anfahrenden Minibus stürmen ließ, wild entschlossen, sich ihm in den Weg zu stellen, wenn sie sich nur irgendwie zwischen seine verbeulte Front und den Mercedes hätte zwängen können, der sich rückwärts genau davor gesetzt hatte.
* * *
Bachmann hatte sich mit dem rechten Arm zur Beifahrertür hinausgestemmt. Stolpernd und humpelnd rannte er an dem Minibus entlang und drosch mit seiner heilgebliebenen Faust auf die weiße Blechwand ein, warf sich auf die Motorhaube des führenden Mercedes und rutschte mit den Füßen voraus darüber hinweg, von zwei Männern in Sturmhauben, die auf den Vordersitzen saßen, gleichgültig beobachtet. Der Minibus fuhr an, aber bevor sich die Seitentüren ganz schlossen, erhaschte Bachmann einen Blick auf vier Maskierte in Trainingsanzügen, zu deren Füßen zwei Gestalten mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen, eine in einem langen schwarzen Mantel, die andere in einem beigefarbenen Burberry. Jemand schrie, und er merkte, daß es Annabel war, die den Griff der Seitentür gepackt hatte und sich mitschleifen ließ, wozu sie »open the door, open the door, open the door« brüllte, immer und immer wieder.
Der Verfolger-Mercedes mit dem maskierten Fahrer und der Aschblonden auf dem Beifahrersitz war längsseits gegangen und versuchte sie abzudrängen, und der Minibus beschleunigte, aber Annabel hielt immer noch fest. » Bastards1« schrie sie. »Bastardsl« Ich hol dich da raus!
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