Marionetten
fiel Melik auf, daß der magere Körper leicht Schlagseite hatte, so als hätte ihm jemand einen Rippenstoß verpaßt, nach dem er sich lange nicht wieder hatte aufrichten können. Und seine Augen glühten noch beschwörender als am Vortag. Melik erwiderte seinen Blick, bereute es prompt und sah weg.
Und dieses zweite Zusammentreffen war um so unwahrscheinlicher, als Leyla und Melik so gut wie nie in die Moschee gingen, auch in keine gemäßigte, türkischsprachige. Seit den Anschlägen vom elften September waren die Hamburger Moscheen gefährliche Orte geworden. Ein einziger Besuch in der falschen – oder in der richtigen, aber beim falschen Imam –, und man landete mitsamt der ganzen Sippschaft für alle Zeit auf der Verdächtigenliste der Polizei. Niemand bezweifelte, daß in fast jeder Gebetsreihe ein vom Staat bezahlter Informant kniete. Niemand, sei er Muslim, Polizeispitzel oder beides, konnte vergessen, daß der Stadtstaat Hamburg, ohne es zu ahnen, drei der Attentäter vom elften September nebst weiteren Zellenmitgliedern und Mitverschwörern beherbergt hatte und daß Mohammed Atta, der mit dem ersten Flugzeug in die Zwillingstürme gekracht war, in einer bescheidenen Hamburger Moschee zu seinem grimmigen Gott gebetet hatte.
Ohnehin waren Melik und seine Mutter in Glaubensdingen etwas nachlässig geworden, seit sein Vater gestorben war. Sicher, der alte Herr war gläubiger Muslim gewesen, sogar Laienprediger. Vor allem jedoch war er ein militanter Kämpfer für die Rechte der Arbeiter, darum hatte er die Heimat ja verlassen müssen. In die Moschee waren sie einzig deshalb gegangen, weil es die impulsive Leyla plötzlich dazu gedrängt hatte. Sie war glücklich. Die Trauer lockerte ihren eisernen Griff. Aber der erste Todestag ihres Mannes stand bevor. Sie mußte Zwiesprache mit ihm halten und die frohe Nachricht mit ihm teilen. Das große Freitagsgebet hatten sie schon verpaßt, weshalb sie eigentlich auch zu Hause hätten beten können. Doch Leylas Laune war Gesetz. Mit dem unwiderlegbaren Argument, daß private Bittgebete größere Erfolgschancen haben, wenn sie am Abend dargebracht werden, hatte sie durchgesetzt, daß sie die letzte Gebetsstunde des Tages besuchten, was gleichzeitig hieß, daß die Moschee nahezu leer war.
Weswegen Meliks zweites Zusammentreffen mit dem Jungen, genau wie das erste, purer Zufall sein mußte. Was sollte es sonst sein? Das zumindest sagte sich, schlichten Gemüts, der gutherzige Melik.
* * *
Am nächsten Tag, Samstag, fuhr Melik seinen reichen Onkel väterlicherseits in dessen Kerzenfabrik am anderen Ende der Stadt besuchen. Zu Lebzeiten seines Vaters hatte es zwischen den Brüdern Spannungen gegeben, aber seit seinem Tod hatte er die Freundschaft des Onkels schätzengelernt. Er stieg in den Bus, und was sah er? Keinen anderen als den klapprigen Jungen, der unter ihm im Wartehäuschen saß und ihm hinterherschaute. Und als er sechs Stunden später an derselben Haltestelle wieder ausstieg, war der Kerl immer noch da, in seine Kefije und den Zauberermantel gehüllt, in dieselbe Ecke des Unterstands gekauert wie zuvor, wartend.
Bei seinem Anblick wurde Melik, den das Gebot Gottes dazu verpflichtete, alle Menschen gleichermaßen zu lieben, von einer ganz unfrommen Abneigung gepackt. Von dem Jungen schien ein Vorwurf auszugehen, und den nahm er ihm übel. Schlimmer noch, er hatte trotz seines erbärmlichen Zustands etwas Hochmütiges an sich. Was bezweckte er überhaupt mit diesem lächerlichen schwarzen Mantel? Hielt er sich damit für unsichtbar? Oder wollte er irgendwem weismachen, er wäre so unbeleckt von westlichen Gebräuchen, daß er nicht wußte, was für ein Bild er in dem Ding abgab?
Egal. Melik war entschlossen, ihn abzuschütteln. Statt ihn also anzusprechen und sich zu erkundigen, ob er Hilfe brauchte oder krank war, wie er es andernfalls sicher getan hätte, nahm er mit langen Schritten Kurs auf zu Hause, in der beruhigenden Gewißheit, daß diese halbe Portion nie mit ihm würde mithalten können.
Die Sonne schien ungewöhnlich heiß für einen Frühlingstag, das Pflaster glühte förmlich. Dennoch schaffte es der Junge auf wundersame Weise, auf dem belebten Gehsteig mit Melik Schritt zu halten: humpelnd und keuchend, röchelnd und schwitzend, mit vereinzelten ungelenken Hüpfern dazwischen, als litte er Schmerzen, schloß er an jeder Kreuzung wieder zu ihm auf.
Und als Melik das winzige Backsteinhaus betrat, das seine Mutter nach mehreren Jahrzehnten
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