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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: CHRISTINE GRÄN
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keine Uhr. Anna glaubt nicht, dass sie der Zeit irgendeine Bedeutung beimisst.
    »Vor einer halben Stunde.« Sie sieht Anna triumphierend an.
    Der Bulle lächelt den beiden Frauen zärtlich zu. »Das ist gut. Mehr wollte ich nicht wissen. Vielen Dank, Lily. Du hast mir sehr geholfen.«
    Spricht’s und wendet sich zum Gehen. »Wollen Sie mich nicht mitnehmen?«, ruft Anna in seinen breiten Rücken. Er dreht sich nicht mehr um. »Nein. Sie sollten was gegen den Geruch hier tun. Er ist penetrant. Ich rufe Sie an, Anna.«
    Sie hüpft vom Fensterbrett, fühlt sich für einen Augenblick jugendlich, und steht jetzt neben Lily, die dem Bullen verträumt hinterhersieht. »Sie trauen mir nicht«, ruft Anna, bevor er hinter der Hausecke verschwindet. Das hohe Gras hat er einfach nieder getrampelt. Wie ein Elefant, denkt Anna, und dass sie immer noch nicht weiß, ob er sie anzieht oder abstößt. Sie sieht Lily an, die ihr knapp bis an die Schultern reicht, und fragt sich, warum Täufer ihr glaubte. Weil Erwachsene denken, dass sie das Monopol auf Lügen haben? Lily ist weit über zwanzig, und sie könnte ihre Tochter sein. Gott bewahre!
    Die beiden Frauen hören das Aufjaulen eines Motors, und Lily rafft ihr Kleid hoch und läuft zum Gartentor. Anna bleibt zurück und sieht wieder auf das Gartenhaus, das sich so gut vor Blicken zu verstecken weiß. Es zieht sie an, und sie weiß nicht, warum. Als Kind war sie schon neugierig und meinte, alles erforschen zu müssen. Gewachsen ist auch die Trägheit, doch so ganz ist dieses Verlangen nie verschwunden.
    »Er fährt ein riesiges Motorrad«, sagt Lily, als sie zurückkommt. »Ist er wirklich ein Bulle?«
    »Glaub schon. Ich habe bei seiner Dienststelle angerufen, und dort gibt es einen Johannes Täufer.« Anna ist ein wenig beleidigt, dass er sie nicht mitgenommen hat. Auch, weil er ihr nicht traute und sie bis hierhin verfolgt hat. Sie fühlt sich benutzt, und das ist kein schönes Gefühl. Nicht, wenn es einem passiert, und auch nicht, wenn man es selbst hundertmal tut. Jeder benutzt jeden für irgendwas, selbst dafür, geliebt zu werden.
    »Rafael hat seinen Job gekündigt«, sagt Lily und schnuppert mit ihrer kleinen Nase in den Wind.
    »Es riecht nach einem toten Tier.« Anna will nicht fragen, weshalb er das tat und was er jetzt vorhat. Rafaels Entscheidungen sind nicht ihre Sache, und miteinander zu schlafen heißt nicht, irgendetwas zu teilen außer einen Augenblick der Lust. Wie hätte sie sonst an ihrem Satz »Er hat mit der Sache nichts zu tun« zweifeln können? Niemand kennt den anderen, und keiner will erkannt werden.
    Geheimnisse seien das wichtigste Element der Liebe, hat Philipp immer behauptet. Er war ein Mann, der im Grunde keine Frau brauchte, weder die Ehefrau noch die Geliebte. Er brauchte seine einsamen Geheimnisse und fühlte sich von Frauen unangemessen bedrängt, aber das hat Anna erst sehr spät begriffen. Der liebenswerte, ehrenwerte, emotionale Krüppel hat ihr Kummer bereitet, als sie ihn verließ, und sie hat ihn überwunden. Wozu man auf der Welt ist: die Traurigkeit zu besiegen, die im Alleinsein liegt.
    »Woran denkst du?« Lily hüpft in ihrem Brautkleid, um dem Gestrüpp auszuweichen. Sie gehen durch die Wildnis, und Anna sagt: »An traurige, tote Tiere. Was ist in dem Gartenhaus?«
    »Werkzeug, eine Matratze und eine Tiefkühltruhe«, erwidert Lily und dreht sich im Kreis, sodass der weite Rock fliegt. »Wenn Harry und ich geheiratet hätten, wäre es in diesem Kleid gewesen.«
    »Das kannst du immer noch tun«, sagt Anna gegen jede Überzeugung. Je näher sie dem Holzhaus kommen, desto intensiver wird der Geruch. Einmal war Anna bei einer Obduktion dabei. Es war ihr erster Fall in Berlin, und sie hat in letzter Zeit nicht mehr an ihn gedacht. Ein junges Mädchen, das auf der Straße getötet wurde, und der Fahrer war geflüchtet. Der Vater beauftragte Anna, den Mörder zu suchen. Er nannte ihn Mörder, weil er ein Ventil für seinen Schmerz brauchte und den Fähigkeiten der Polizei misstraute.
    Anna benötigte zwei Wochen, um den Jungen zu finden, und einen oder zwei Tage später hätte dies auch die Polizei getan. Wenn sie nur schneller gewesen wären in ihrer Suche! Der Junge war siebzehn und der Sohn eines Automechanikers, der seine Werkstatt um zwei Ecken hatte. Der Junge hatte keinen Führerschein und war zu schnell gefahren. Die alte Geschichte von Schuld und der panischen Angst vor Strafe. Anna beging den furchtbaren Fehler, dem Vater

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