Meereskuss
Sie blinzelte, während sie sich an den Türrahmen lehnte. »Das ist … toll, Dad. Ein hübscher Name«, setzte sie hinzu. Was hätte sie auch sonst sagen sollen?
»Das habe ich bei deinen Unterrichtssachen gefunden.« Bart hielt das orangegrüne Cover von
Goodnight Moon
hoch. »Das macht dir doch nichts aus, oder?«
»Nein«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Überhaupt nichts.«
Bart runzelte die Stirn, als sein Blick zu der Gestalt zurückkehrte, die so still, so blass auf dem Bett lag und deren Brust sich beim Atmen sanft hob und senkte. »Sie sieht gar nicht wie du aus«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, warum man … Ich weiß nicht, warum ich dachte, sie sähe wie du aus.«
Lucys Lachen klang eher wie ein Schluchzen. Sie trat ins Zimmer, beugte sich vor und küsste ihn auf den Scheitel. »Ich weiß es auch nicht, Dad.«
Ihr Vater tätschelte unbeholfen ihre Hand, die auf seiner Schulter lag. »Caleb und die anderen sind unten«, sagte er. »Du solltest zu ihnen gehen. Frühstücken.«
»Ja.« Sie schluckte hart. »Das mache ich.«
Sie waren im Wohnzimmer versammelt: Caleb in seiner Uniform und Margred, müde und schön, Regina mit dem achtjährigen Nick auf der Couch und Dylan, der mit dem Rücken zum Raum aus dem Fenster in den Schnee starrte.
Caleb und Regina sprachen mit gedämpfter Stimme, wie Schulkinder in der Bücherei oder Besucher in einem Haus, in dem jemand gestorben war.
Ein schrecklicher Kummer schnürte Lucys Herz zusammen. Jemand war ja auch gestorben. Conn. Sie hatte ihn nicht spüren, berühren, seine Gegenwart fühlen können, seitdem sie die Flut am Abend zuvor abgewehrt hatten. Das goldene Band, das zwischen ihnen gespannt gewesen war, war durchtrennt und hatte sie allein zurückgelassen. Hilflos dahintreibend.
»… über den Atlantik verstreut«, sagte Caleb gerade. Er erblickte sie. Sein Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. »Lucy.«
Dylan drehte sich um.
Ihr Blick suchte den seinen. Eine unwirkliche Hoffnung tobte wie Feuer in ihrer Brust. »Irgendeine Nachricht?«, bettelte sie. »Irgendeine?«
Dylan schüttelte den Kopf, und seine Augen waren schwarz vor Bedauern. Ihr fiel ein, dass auch er Conn geliebt, den Selkie-Prinzen gekannt hatte, seitdem er dreizehn Jahre alt gewesen war.
Regina stupste Nick an, der von der Couch rutschte. »Wir haben heute keine Schule«, verkündete er. »Wegen des Schnees und der Evakuierung und so. Danny und ich gehen Schlitten fahren.« Er streckte den Kopf vor. »Bist du schon wieder krank?«
Lucy öffnete den Mund, aber zu ihrem Schrecken kamen keine Worte heraus.
»Sie ist nur müde«, erklärte Regina und fuhr ihm durchs Haar. »Komm. Kochen wir Lucy einen Tee.«
Er trottete ihr nach, den Flur entlang. Lucy ging quer durch den Raum, geradewegs in die Arme ihres Bruders Dylan.
In der Trauer vereint, umarmten sie sich zum ersten Mal. Sein Körper war hart und hager und eckig wie der ihres Vaters.
»Es tut mir leid.« Dylans Stimme war heiser.
Sie schüttelte wortlos den Kopf. Er tätschelte ihr kurz verlegen den Rücken, bevor er sie losließ und seiner Frau und ihrem Sohn in die Küche folgte.
Lucy stand allein und verlassen mitten im Raum. Margred ließ sie nicht aus den dunklen Augen. Sie waren tief und voller Mitgefühl.
»Du hast deine Sache gut gemacht«, sagte Caleb ruhig.
»Ich fühle mich so leer«, flüsterte Lucy.
Er zog sie in seine Arme. Er roch nach Wäschestärke und Fichten und Schnee. Calebgerüche. World’s-End-Gerüche.
»Es fühlt sich immer so nach einem Kampf an«, erklärte er. »Selbst, wenn man gewonnen hat.«
Aber sie hatte nicht gewonnen, dachte sie betäubt, während ihr Kopf an seiner Schulter ruhte.
Ihre Familie war vorläufig gerettet. World’s End war gerettet. Gau war besiegt, begraben unter Wasser und Felsen.
Aber Lucy hatte verloren.
Sie hatte Conn verloren.
Die Woche schritt voran, gemessen an den sich vertiefenden Fahrspuren im Schnee und der immer dicker werdenden Eisschicht um Lucys Herz.
Das Inselleben ging weiter, was an den wechselnden Reklamezetteln im Schaufenster von Wileys Lebensmittelladen und der aktuellen Tageskarte in Antonias Restaurant abzulesen war. Auch die Fähr- und Telefonverbindung funktionierte wieder.
Lucys Klassenzimmer füllte sich mit quirligen Schülern und dem Geruch nasser Mäntel und Stiefel. Regina und Margred kauften auf dem Festland Umstandsmode ein. Caleb zog Autos aus dem Straßengraben und kümmerte sich wegen der Kälte um die älteren
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