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nehmen. Sie hatte schon zu viele Kreuze zu tragen. »Wo ist die Karte, Emma?«
»Gleich hinter der Telefonrechnung, Miss Frances.«
Zu Frannies Enttäuschung war es keine Ansichtskarte. Es war eine von DeDes eigenen gold-grünen Karten im florentinischen Stil, und die Nachricht war unaufmerksam knapp:
Mutter!
Haben uns gut eingelebt. Den Kleinen geht es gut, und ich bin braungebrannt und gesund. Ich habe hier so viele nette Menschen kennengelernt. Das ist der erste Job, den ich je hatte, und ich bin glücklich damit.
Du fehlst mir oft, bin aber sicher, es ist das beste so. D’or läßt dich grüßen.
Ganz herzlich
DeDe
Frannie seufzte laut, als sie die Karte weglegte. Emma legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich mal keine Sorgen, Miss Frances. Das wird garantiert wieder anders. Sie ist ein kluges Kind. Sie wird sicher wieder vernünftig.«
Die Matriarchin schüttelte den Kopf und tupfte sich mit einer Cocktailserviette die Augen ab. »Das ist zuviel, Emma.«
»Was meinen Sie?«
»Heute ist Muttertag, Emma. Edgar hat mir immer Godiva-Pralinen oder sonst was gebracht. Manchmal vergesse ich ganz, daß er gestorben ist, und da ist es jedesmal so, als würde ich ihn von neuem verlieren. Beauchamp ist nicht mehr da … DeDe nicht … Und meine einzigen Enkelkinder auch nicht.«
Emma drückte die Schulter ihrer Herrin. »Sie müssen stark sein, Miss Frances.«
Frannie schwieg einen Augenblick, dann sah sie ihr Hausmädchen mit einem matten Lächeln an. »Sie sind so weise, Emma.«
»Machen Sie sich mal keine Sorgen.«
Frannie nickte entschlossen und griff noch einmal nach der Karte. Mit leicht zusammengekniffenen Augen studierte sie die Briefmarke und den Poststempel. »Ich weiß nicht einmal, wo Guyana überhaupt liegt« ,sagte sie.
Wie ein neugeborenes Fohlen probierte Michael Tolliver im Vorgarten der Barbary Lane 28 seine Beine aus. Mary Ann kam aus dem Haus. »Ich hab eben mit Mildred gesprochen«, rief sie.
»Und?«
»Es hat geklappt, Mouse. Du kannst in zwei Wochen als Botenjunge anfangen, wenn du dir’s zutraust.«
Er ließ einen Freudenschrei los. »Endlich werd ich auch eine Bürotrulla!«
»Ich glaube, der neue Chef wird dir gefallen. Er war bisher Art-Director.«
»Ohoho«, machte Michael und schnitt eine Grimasse.
Mary Ann nickte. »Schwul wie nur was.«
»Ach, ein Happy-End! Ein Happy-End!«
»Zum Teil wenigstens.«
»Zum Teil? Die Welt war doch noch nie schöner! Mona und Brian sind schon fast eine Woche zusammen. Mrs. Madrigal grinst wie die Cheshire Cat. Du kannst reich werden, wenn du deine Memoiren verkaufst … und Burke sogar noch reicher. Ich bin wieder ein gesunder und strammer Junge, und Jon und ich können wieder … na ja, darüber spricht man nicht. Außerdem – O Wunder aller Wunder! – hat mir meine Mutter gestern einen Schokoladenkuchen geschickt.«
Mary Ann lächelte. »Ich weiß. Jon hat mir ein Stück gegeben. Es ist schön, daß sie Verständnis zeigt.«
»Das ist noch nicht raus. Es war nämlich kein Brief im Paket. Nur der Schokoladenkuchen.«
»Sie bemüht sich, Mouse.«
Lächelnd sagte er: »Du weißt ja, welches Wort mein Vater für die Schwulen immer nimmt. Da hätte mich ein Früchtekuchen leicht nervös gemacht.«
Mary Ann lachte halbherzig.
»Was hast du?« fragte Michael. »Ist was?«
Schweigen.
»O Gott! Doch nicht etwa Mr. Williams! Ist seine Leiche aufgetaucht?«
»Nein! Um Himmels willen, Mouse, fang bloß nicht wieder damit an! Es geht um Burke, Mouse. Er zieht nach New York. Man hat ihm einen Job beim New York Magazine angeboten.«
»Ach nein!«
»Ich sollte mich für ihn freuen, Mouse. Für ihn ist das eine fabelhafte Gelegenheit. Die meisten Journalisten würden einen Mord begehen, um dort arbeiten zu können.«
»Hat er dich gebeten mitzukommen?«
Sie nickte. »Ja, gleich als erstes.«
»Und …?«
»Ich kann nicht, Mouse.« Verzagt schaute sie sich im Garten um. »Es ist viel zu schön hier.«
»Braves Mädchen.«
»Nein. Dummes Mädchen. Dummes Mädchen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Was ist bloß mit mir, Mouse?«
»Nichts ist mit dir, Babycakes. Du hast es bloß satt, von zu Hause wegzulaufen.« Er nahm sie am Arm und führte sie langsam in Richtung Haus.
»Wohin gehen wir?« fragte Mary Ann.
»Zurück nach Tara«, sagte er grinsend. »Wir überlegen uns, wie wir ihn wieder zurückholen. Schließlich ist morgen wirklich noch ein Tag, meine Liebe!«
Ende des zweiten Buches
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