Meistererzählungen
gewisse nicht zu benen nende Ähnlichkeit, ja Brüderlichkeit. Sie beruhte zum Teil darauf, daß der Vater, von dem Armen angesprochen, ohne Sträuben und Stirnrunzeln den andern anhörte und gelten ließ, daß er keinen Abstand zwischen ihn und sich legte und sein Recht auf Angehörtwerden und Mitleid als ein selbstver ständliches anerkannte. Aber dies war das wenigste. War die
ser halbbärtige dunkelhaarige
Arme aus der Welt der zufrie denen, arbeitenden und jeden Tag satt werdenden Leute her ausgefallen, machte er inmitten dieser reinlichen kleinbür gerlichen Wohnhäuser und Vorgärtchen den Eindruck eines Fremdlings, so war ja Vater längst schon, wenn auch auf so ganz andere Weise, ein Fremdling, ein Mann von anderswo her, der mit Leuten, unter denen er lebte, nur in einer losen, auf Übereinkommen beruhenden, nicht gewachsenen und erdhaften Gemeinschaft stand. Und wie der Bettler hin-557
ter seinem eher trotzigen und desperadohaften Aussehen doch etwas Kindliches, Naturhaftes und Unschuldiges zu haben schien, so war ja auch bei Vater hinter der Fassade des From men, des Höfl ichen, des Vernünftigen viel Kindhaftes ver borgen. Jedenfalls – denn alle diese klugen Gedanken hatte ich damals natürlich nicht
– empfand ich, je länger die beiden miteinander und vielleicht aneinander vorbeiredeten, desto mehr eine wunderliche Art von Zusammengehörigkeit zwi schen ihnen. Und Geld hatten sie also beide keines.
Vater stützte sich auf den Rand des Kinderwagens, wäh rend er dem Fremden Rede stand. Er machte ihm klar, daß er gesonnen sei, ihm einen Laib Brot zu geben, doch müsse dies Brot in einem Laden geholt werden, wo man ihn kenne, und der Mann sei nun eingeladen, dahin mitzukommen. Damit setzte der Vater den Wagen wieder in Bewegung, drehte um und schlug die Richtung nach der Austraße ein, und der Fremde marschier-te ohne Widerrede mit, war aber wieder et was scheu geworden und fühlte sich sichtlich nicht recht zu frieden, das Ausbleiben der Geldspende hatte ihn enttäuscht.
Wir Kinder hielten uns dicht neben dem Vater und dem Wa gen, dem Fremden nicht zu nahe, der sein Pathos aufgegeben hatte und jetzt still und eher mürrisch geworden war. Ich be trachtete ihn aber im geheimen und machte mir Gedanken, es war mit diesem Menschen so viel in unsre nächste Nähe getreten, so viel Bedenkliches, im Sinn des zu Bedenkenden sowohl wie in dem des 558
Bangemachenden, und jetzt, wo der Bettler schweigsam und anscheinend schlechter Laune ge worden war, gefi el er mir wieder weniger und glitt wieder mehr und mehr aus jener Zusammengehörigkeit mit dem Va ter heraus und ins Unvertraute hinüber. Es war ein Stück Le ben, dem ich zusah, Leben der Großen, der Erwachsenen, und da dies Leben der Erwachsenen um uns Kinder her äu ßerst selten so primitive und elementare Formen annahm, war ich tief davon gefesselt, aber die Fröhlichkeit und Zuver sicht von vorher war hingeschwunden, wie an einem heitern Tag plötzlich ein Schleier Licht und Wärme dämpfen und hinwegzaubern kann.
Unser guter Vater freilich schien keine solchen Gedanken zu haben, heiter und freundlich blieb sein klares Gesicht, hei ter und gleichmäßig sein Schritt. So zogen wir, Vater, Kin der, Wagen und Bettler, eine kleine Karawane, nach der Au straße weiter und in ihr fort bis zu einem Kaufl aden, den wir alle kannten und wo es die verschiedensten Dinge zu kaufen gab, vom Wecken und Brot bis zu Schiefertafeln, Schulhef ten und Spielzeug.
Hier hielten wir an, und Vater bat den Fremden, hier eine kleine Weile bei uns Kindern zu warten, bis er aus dem Laden zurückkäme. Adele und ich sahen ein ander an, es war uns beiden gar nicht wohl zumute, wir hatten etwas Angst, oder vielmehr ziemlich große Angst, und ich glaube, wir fanden es auch vom Vater sonderbar und nicht recht begreifl ich, daß er uns da mit dem fremden Manne so allein ließ, als könne uns unmöglich 559
etwas geschehen, als seien noch niemals Kinder von bö-
sen Männern umgebracht oder entführt und verkauft oder zum Betteln und Stehlen ge zwungen worden. Und beide hielten wir uns, zum eigenen Schutze wie auch zu dem unsres Kleinsten, dicht zu beiden Seiten an den Wagen geklammert, den wir unter keinen Um ständen loszulassen gedachten. Schon war der Vater die paar Steinstufen zur Ladentür hinangestiegen, schon legte er die Hand auf die Klinke, schon war er verschwunden.
Wir waren mit dem Bettler allein, in der ganzen langen und geraden Straße war kein Mensch zu
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