Meisterin der Runen
Raubzüge in die benachbarte Normandie unternahm. Der fränkische König Lothar strafte ihn nicht dafür – im Gegenteil. Er schien für die Einflüsterungen Thibauds empfänglich, wonach er selbst die Normandie erobern sollte. Nun, Lothar war nicht gefährlich, er war noch viel zu jung. Aber Hugo, Emmas Bruder, könnte in Versuchung geführt sein, sich erst der fränkischen Krone zu bemächtigen und später der der Normandie.
Das alles legte sie ihrem Vater dar und schloss mit den Worten: »Richard muss auf der Hut sein, jetzt, da Emma tot ist. Wenn Hugo der Große noch leben würde, könnte er sich seines Schutzes sicher sein, doch sein Sohn pflegt eine nicht mehr ganz so enge Freundschaft mit Richard, und nun ist er nicht länger sein Schwager.«
Erst hatte sich Verwirrung im Gesicht des Vaters ausgebreitet, am Ende neue Sorgen, doch anders als erwartet galten diese nicht Graf Richard.
»Du solltest dich nicht mit solchen Dingen beschäftigen«, murmelte er zweifelnd.
»Warum? Weil sie eine Frau ist?«, ging die Mutter scharf dazwischen und nahm den Widerspruch vorweg, der Alruna selbst auf den Lippen lag.
»Nein, weil sie noch so jung ist.«
Alruna reckte ihr Kinn. Wie sie es hasste, wenn über sie geredet wurde, als wäre sie gar nicht anwesend.
»Lasst mich mit Richard sprechen!«, forderte sie entschlossen.
Obwohl sie eigentlich auf ihrer Seite stand, wirkte nun auch Mathilda verwirrt. »Aber …«
»Er ist von seiner Trauer gefangen und blind für die politische Lage«, fuhr sie rasch fort. »Das ist es doch, was euch umtreibt, und deswegen willst du ihm ins Gewissen reden, nicht wahr, Vater? Ich könnte das doch auch tun, und gerade weil ich eine Frau bin und noch jung, mehr Erfolg haben als du!«
Arvid runzelte argwöhnisch die Stirn, doch ehe er etwas sagen konnte, legte Mathilda ihre Hand auf seinen Arm. »Das ist kein schlechter Vorschlag. Alruna hat einen besonderen Platz in seinem Herzen, und vielleicht vermag niemand besser als sie, die Schwärze aus seinem Herzen zu vertreiben.«
Nur wenig später stand Alruna vor dem Grafen.
»Ach, Alruna …«, seufzte Richard.
Er sah älter aus, hagerer, etwas gebeugter – ein Anblick, der ihr Kummer bereitete, zugleich jedoch auch Zorn entfachte. Richard durfte sich nicht gehen lassen! Sich dem Alter hingeben durften seine Berater, ihr Vater darunter, aber doch nicht er, ihr Held, ewig strahlend, jung und stark! Er durfte nicht immer wieder seufzen, den Kopf schütteln, ihr Anliegen schlichtweg ablehnen!
Eben hatte sie vorgeschlagen, gemeinsam auszureiten, doch mit diesem Ansinnen nicht die erhoffte Leidenschaft in ihm entfachen können.
»Ich bitte dich«, bedrängte sie ihn, »du liebst das Reiten über alles, es wird dir guttun!«
»Aber du hast doch Angst vor Pferden.«
Immerhin, in seinem Tonfall lag etwas Neckisches. So sprach er oft mit ihr, als wäre sie noch das kleine Kind, mit dem er früher manchmal gespielt hatte, desgleichen, wie immer, wenn er sie anlächelte, ein Augenzwinkern folgte. Sie liebte sein Lächeln – das Augenzwinkern hingegen nicht. Sie wollte, dass er sie ernst nahm und in ihr nicht länger das kleine Mädchen sah!
»Ich habe schon lange keine Angst mehr!«, rief sie überzeugt.
Das war eine dreiste Lüge – nichts fürchtete sie mehr als jene mächtigen Schlachtrosse, die gewohnt waren, Krieger zu tragen, keine Frauen. Richard war auf dem Pferderücken aufgewachsen, er hatte schon mit vier Jahren reiten gelernt. Sie selbst hingegen war viel älter gewesen, als sie das erste Mal auf einem solchen Tier gesessen hatte – und viel widerwilliger.
Allerdings ließ sie sich das nicht anmerken, sondern starrte ihn herausfordernd an. »Es wird Zeit, dass du dich wieder unter die Lebenden mischst!«, rief sie.
Was ihre Worte nicht auszurichten vermochten, schaffte ihr Blick.
Er lächelte nicht mehr, zwinkerte sie nicht spöttisch an, sondern wurde plötzlich ganz ernst. »Wenn du meinst.«
Alrunas Herz pochte, als sie gemeinsam den Turm hinabstiegen. Vor einigen Jahren hatte Richard die gräfliche Pfalz in Rouen von Grund auf erneuern und einen Turm, dessen Fenster Richtung Südwesten lagen, errichten lassen. War er in seiner Hauptstadt, verbrachte er viel Zeit dort. Für gewöhnlich verließ er ihn nicht an der Seite einer Frau, sondern von Männern – am liebsten von Raoul, seinem Halbbruder, den seine Mutter Sprota einem Müller von Pîtres geboren hatte. Ohne die Last, der Sohn eines Grafen zu sein und
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