Meisterin der Runen
aller Welt eisern verschwiegen hatte! Doch ehe sie es tun konnte, erklang ein Rascheln im Gestrüpp, und sie zuckte zusammen.
»Es wird doch kein Bär sein!«, rief sie erschrocken.
»Und selbst wenn … Ich würde ihn töten, ehe er dir etwas zuleide tun könnte.«
Wieder fiel ihr Blick auf seine Hände, wieder konnte sie sich nicht recht vorstellen, dass diese halfen, Blut zu vergießen.
»Er ist so unglücklich mit seiner Frau.«
Ohne dass der Name seines Bruders fiel, entfuhren Richard diese Worte. Raoul nannte man den Bärentöter, seit er einmal auf der Jagd im Wald von Vivière ein besonders großes, gefährliches dieser Tiere getötet hatte, weswegen Richard nun an ihn dachte.
Alruna schluckte. Der ganze Hof schwatzte über Raouls Ehefrau Ermentrude, die ihm das Leben schwer machte, wo sie nur konnte. Wie ungerecht es war, dass Raoul in einer freudlosen Ehe gefangen war, Richard hingegen Witwer, obwohl er Emma doch gemocht hatte! Wie ärgerlich auch, dass das Rascheln sie von ihrem Bekenntnis abgehalten hatte und nun die Gelegenheit verstrichen war!
»Es tut mir leid«, murmelte sie schlicht. »Nicht, dass Raoul unglücklich ist … sondern du.«
»Ach, das muss dir doch nicht leid tun«, rief er leichtfertig. »Du gibst dir alle Mühe, mich auf andere Gedanken zu bringen. Und wenn ich nicht glücklich bin, ist es gewiss nicht deine Schuld, im Gegenteil. Du bist …«
Er hielt inne. Obwohl das Rascheln längst verstummt war, ritten sie nicht weiter.
»Ja?«, fragte sie.
»Du bist so gut zu mir«, sagte er, »ich liebe dich.«
Ihre Welt stand still.
»Ich liebe dich wie eine Schwester«, fügte er dann hinzu.
Ihre Welt wankte.
Ich liebe dich auch, dachte sie, ich habe dich immer geliebt, schon als kleines Mädchen, ich bin mit der Liebe groß geworden, und diese Liebe hat sich gewandelt, ist längst viel inniger geworden, als die zu einem Bruder es ist.
Sie lächelte, aber sie hatte Tränen in den Augen. Er bemerkte sie nicht, sondern gab seinem Pferd die Sporen.
Alruna lächelte immer noch, als sie zurückkehrten. Sie lächelte, weil Richard in der Nähe war und sie ihm nicht zeigen wollte, wie sehr seine Worte sie getroffen hatten. Und sie lächelte noch mehr, als sie ihre Mutter erblickte, die im Hof wartete, denn vor ihr wollte sie noch viel weniger eingestehen, wie tief der Schmerz saß, der in ihrer Brust wütete.
Richard ließ sich täuschen, Mathilda nicht.
Kaum hatte Alruna ihr Pferd an einen Knecht übergeben und der Graf sich wieder in seinen Turm zurückgezogen, zog Mathilda sie mit sich. Alruna ließ es über sich ergehen.
»Sein Kummer scheint nicht mehr ganz so schwer auf ihm zu lasten«, stellte Mathilda fest.
Alruna nickte mit enger Kehle.
»Aber deiner scheint gewachsen zu sein.«
Der Griff der Mutter war fest und tröstlich, doch Alruna riss sich unwirsch los. »Warum denkt ihr alle, dass ich in Trauer um Emma vergehe? So nahe habe ich ihr nicht gestanden!«
Nie hatte sie dermaßen die Beherrschung verloren, doch die Mutter schien nicht überrascht.
»Du trauerst nicht um Emma«, sagte sie leise, »das weiß ich wohl. Du leidest nicht wegen des Todes … sondern wegen der Liebe.«
Endgültig entglitten Alruna die Züge. Wie sollte sie der Mutter etwas vormachen, dieser lebensklugen, erfahrenen Frau, die durch manche Schicksalsstürme gegangen, von ihnen jedoch nicht umgeworfen worden war und danach nur umso fester im Boden verwurzelt schien?
Alruna hingegen war es, als würde dieser Boden zittern. »Ich liebe ihn, seit ich denken kann«, brach es aus ihr hervor.
Mathilda nickte nachdenklich. »Und siehst du, das macht mir Sorgen. Dass du nie eine gewesen bist, die ihn nicht liebte.«
Alruna sah sie betroffen an. »Was soll das heißen?«, fragte sie unwirsch und suchte vergebens, ihre Verstörtheit hinter Trotz zu verbergen.
»Dass du mehr sein musst als ein Zweiglein, das an seinem Baume wächst, denn sonst verkümmerst du.«
»Also glaubst du nicht, dass er mich ebenfalls lieben könnte?«
Mathilda seufzte. »Die Trauer um Emma mag echt gewesen sein, sonderlich tief ging sie jedoch nicht. Richards Gefühle sind stets heftig, hingegen selten langlebig. Das Problem ist nicht, dass er nicht lieben kann, sondern dass er zu viele liebt.«
Alruna schwieg betroffen. Sie hätte es gern geleugnet, aber sie wusste so gut wie ihre Mutter, dass die verstorbene Emma nicht die einzige Rivalin um Richards Gunst gewesen war. Seine Ehe hatte ihn nicht davon abgehalten,
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