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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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sie den Runen, die ebenso schaden wie nutzen konnten, den unberechenbaren Göttern, die sich manchmal einen Spaß daraus machten, die Menschen zu quälen? Oder galt sie der Zukunft in ihrer neuen Heimat, für die sie ihre vertraute Welt zurückgelassen hatten?
    Gunnora zuckte angstvoll zusammen, als plötzlich ein Ruf von draußen erschallte. Aus der Miene der Mutter schwand sogleich die Sorge, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.
    »Wie es aussieht, ist endlich Land in Sicht.«
    Später fragte sich Gunnora oft, ob das Unbehagen sie schon begleitet hatte, als sie von der niedrigen Kammer ins Freie getreten war, auf das glitzernde Wasser gestarrt und am Horizont einen Streifen Land auszumachen versucht hatte, und ob dieses Unbehagen nur von der Geschichte über Odins Opfer gerührt hatte oder von einer dunklen Vorahnung. Sie war sich nicht sicher. In jedem Fall hatte es außer dem leichten Unbehagen nichts gegeben, das sie vor dem Kommenden gewarnt hatte.
    Gespannt, ein wenig wehmütig und nicht ohne Zweifel sah sie nun in Richtung Küste, die immer deutlicher zu erkennen war, ein Sandstreifen zwischen Himmel und Meer, von schroffen Felsen begrenzt. Ein Zeichen, dass das Leben in der Heimat endgültig vorüber war und das in der Normandie begann.
    Der Meerwind blies ihr ins Gesicht, und Gunnora schloss kurz die Augen, um den salzigen Geruch und die Ahnung von Freiheit, die er schenkte, zu genießen. Die Mutter lehrte sie die Runen nur drinnen, ob in ihrem Langhaus in Dänemark oder nun in der Kammer auf dem Schiff, und dafür war sie gern bereit, auf die Sonne zu verzichten. Doch jetzt nahm sie erfreut die Wärme in sich auf, sah darin ein hoffnungsvolles Zeichen und schüttelte die Zweifel ebenso ab wie das stete Frösteln. Viel zu oft war ihr im Leben kalt gewesen, auch in den letzten Nächten im Schiffsbauch, wo es kein Feuer gab, um sich zu wärmen, wo sie sich zitternd aneinanderpressen mussten und ihre Haare sich in der Feuchtigkeit kräuselten, die stetig durch die Ritzen kroch.
    Knörr hießen Schiffe wie dieses, hatte ihr Vater erklärt, im Vergleich zu den geschmeidigen, schnellen Langschiffen ungleich behäbiger und zum Transport schwerer Waren wie Eisen und Speckstein geeignet. Ihr Nachtlager im niedrigen Frachtraum hatten sie inmitten dieser Güter aufgeschlagen, nicht frei von Furcht, im Schlaf davon erdrückt zu werden.
    Das nächste Mal werde ich in der fremden, neuen Heimat einschlafen, dachte Gunnora – plötzlich nicht minder aufgeregt als ihr Vater, dem man die Ungeduld deutlich ansah.
    »Wann werden wir anlegen?«, fragte er.
    Der Mann, dem das Schiff gehörte, war für gewöhnlich wortkarg, desgleichen seine Besatzung: sechs Männer, die den Handel zwischen Dänemark und der Normandie belebten. Jetzt erklärte er nicht ohne Stolz, dass sein Schiff, von ihm liebevoll Elch des Meeres genannt, die Reise schneller als erwartet hinter sich gebracht habe.
    »Wenn die Sonne am höchsten steht, betreten wir wieder Land«, fügte er hinzu.
    Gunnoras jüngere Schwestern hatte es belustigt, dass er seinem Schiff einen Kosenamen gab. Während der Reise hatten sie es gründlich erforscht, doch heute interessierten sie sich nicht länger für die im Wind knatternden Segel oder die langen Ruder, die mit einem lauten Klatschen in die Fluten tauchten, sondern nur noch für das Land in der Ferne.
    »Stimmt es … stimmt es, dass die Wiesen in der Normandie voller Blumen stehen und die Äcker vor Ähren überquellen?«, fragte Seinfreda, ein Jahr jünger als Gunnora und zarter als sie, mit so heller Haut, dass man die dunklen Adern durchschimmern sah. Im Gegensatz zu Gunnora, die schwarzes Haar hatte, war die Schwester blond. Ihre Füße waren so winzig, dass man meinen konnte, sie würde keinen ordentlichen Halt auf der Erde finden, sondern jederzeit vom Wind fortgeweht werden.
    »Nun, auch dort gibt es Unwetter und Kälte, aber nicht so oft wie bei uns«, erwiderte ihr Vater Walram.
    Wevia, die Dritte im Bunde und acht Jahre alt, interessierte sich nicht für Blumen und Ähren. »Werde ich in der Normandie eine Kette bekommen, die so schön wie die von Mutter ist?«
    Sie liebte den Schmuck, den Gunhild trug, und konnte ihn stundenlang betrachten. Manchmal hatte ihr Walram einzelne Perlen geschenkt, jedoch nie eine vollständige Halskette, wie eine Schwester der Mutter sie kunstvoll herzustellen vermochte, indem sie Rohglasklumpen und Mosaiksteine in einer Schmelzpfanne erwärmte und daraus mit einem

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