Meisterin der Runen
würden sie fürs Erste ein Zuhause finden. Doch sie wussten nichts von ihrer Ankunft, und sie waren nicht reich genug, um so viele Pferde zu haben … und Waffen.
Walram folgte seiner Frau. »Lass mich fragen!«
Seine Töchter ließ er zurück – die Pferde nicht. Er hielt sie rechts und links, als er auf die Reiter zutrat, die eben stehen geblieben waren. Die Tiere schnaubten, verdrehten die rotgeäderten Augen. Fürchteten sie die Artgenossen? Die Reiter, die sich nicht rührten? Den süßlichen Geruch?
Ja, plötzlich roch es nicht mehr nach brackigem Wasser, sondern … süßlich.
In der Aufregung hatte Gunnora diesen Geruch nicht bemerkt – auch nicht, dass ihnen niemand entgegengekommen war, um ihnen beim Ausladen zu helfen, obwohl doch in der Nähe des Stegs ein kleines Dorf lag. Sie war damit beschäftigt gewesen, heil an Land zu kommen und dieses Land zu mustern, hatte nach Äckern und Blumen Ausschau gehalten, nicht nach den wenigen Hütten. Jetzt betrachtete sie die Hütten, jetzt sah sie, dass hinter einer der Hütten ein Mensch lag … nicht schlafend, sondern … verwesend.
Ehe sie auch nur den Mund öffnen konnte, hörte sie die Mutter schreien. »Lauft! Lauft fort!«
Gunhild begann zu laufen – jedoch nicht von der Gefahr fort, sondern an die Seite des Vaters. Inmitten der beiden Pferde wirkte er so klein. Die Reiter hingegen, die ihre Waffen zogen, schienen geradezu riesig.
»Lauft!«, schrie die Mutter wieder.
Gunnora lief nicht, sie stand ganz starr. Wevia, an Seinfredas Hand, begann jetzt zu weinen, und Duvelina krallte sich an ihr fest. Ich bin die Älteste, ich muss sie in Sicherheit bringen, fuhr es ihr durch den Kopf.
Denken konnte sie noch, sich rühren nicht. Wie gelähmt sah sie zu, wie einer der Reiter auf den Vater zugaloppierte. Der ließ die Pferde los und hob die Hand, um den Angreifer dazu zu bewegen, anzuhalten, doch dieser ritt weiter und schwang sein Schwert. Kurz blitzte die Klinge in der Sonne, dann hatte er es schon wieder gesenkt. Es war so schnell gegangen, dass Gunnora nicht gesehen hatte, wie er den Schlag ausführte. Sie sah nur, wie ihr Vater auf die Knie sank, sah einen Wimpernschlag später seinen Kopf, der, vom Rumpf getrennt, auf den Boden fiel.
Der Sand färbte sich rot.
Weiterhin konnte sie denken, jedoch nichts fühlen und sich nicht bewegen, selbst dann nicht, als hinter ihr ein Tumult losbrach. Die Siedlerfamilien schrien, drängten sich erst aneinander und flohen dann in sämtliche Richtungen. Der Weg wurde ihnen abgeschnitten, von überall schienen nun Reiter zu kommen, enthaupteten Menschen mit ihren Schwertern, schlugen sie entzwei, durchbohrten ihre Brust mit Lanzen.
Der Sand wurde immer röter, ein ganzes Meer von Blut.
Seinfreda zerrte an ihrer Hand. Ihre Augen waren weit aufgerissen, das blonde Haar hob sich kaum von ihrem blassen Gesicht ab. Ein seltsamer Gedanke kam Gunnora in den Sinn: Wenn Seinfreda vom Schwert getroffen würde, wäre ihr Blut nicht rot, sondern weiß wie die Gischt …
Aber Seinfreda durfte nicht getroffen werden, und auch nicht Wevia, nicht Duvelina, nicht sie selbst!
»Lauft! Lau …«
Der Schrei der Mutter riss ab. Ihr Körper wurde von einer Lanze durchbohrt, sie sank auf den Boden.
Dieses Mal gehorchte Gunnora ihrem Befehl. Sie lief zurück zum Steg, weg von den Reitern und den Toten. Sie sah in weiter Ferne ein Stückchen Wald. Es waren nicht genug Bäume, um sich dahinter zu verstecken. Unmöglich auch, sie zu erreichen. Ihr Mut sank.
»Das Boot.«
Sie konnte Seinfreda unter dem Schreien der Menschen kaum verstehen, aber jetzt sah sie es selbst: Im grünen, schlickigen Wasser trieb ein Boot. Sie nickte und watete ins Wasser. Die Kälte fuhr wie ein Messerstich in ihre Glieder, doch das war nicht wichtig. Mit der einen Hand hielt sie Duvelina umklammert, mit der anderen drehte sie das Boot um. Seinfreda half ihr dabei, während sie ihrerseits Wevia festhielt. Die beiden Jüngsten weinten hemmungslos.
Immer tiefer versank Gunnora im Wasser, immer kälter wurde ihr, doch nichts war so kalt wie der Tod – und dies war die einzige Möglichkeit, sich vor ihm in Sicherheit zu bringen.
»Halt die Luft an!«
Das brackige Wasser schlug über ihrem und Duvelinas Kopf zusammen. Als sie wenig später unter dem Boot wieder auftauchte, schien es nicht länger grünlich, sondern schwarz. In dem Hohlraum war es dunkel, Duvelina hörte zu weinen auf. Seinfreda und Wevia folgten, auch sie starr vor Angst und Kälte.
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