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Meisternovellen

Meisternovellen

Titel: Meisternovellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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es gibt ja nicht nur eine Pflicht, die gegen den andern, sondern eine für sich selbst und eine für den Staat und eine für die Wissenschaft … Man soll helfen, natürlich, dazu ist man doch da … aber solche Maximen sind immer nur theoretisch … Wie weit soll man denn helfen? … Da sind Sie, ein fremder Mensch, und ich bin Ihnen fremd, und ich bitte Sie, zu schweigen darüber, daß Sie mich gesehen haben … gut, Sie schweigen, Sie erfüllen diese Pflicht … Ich bitte Sie, mit mir zu sprechen, weil ich krepiere an meinem Schweigen … Sie sind bereit, mir zuzuhören … gut … Aber das ist ja leicht … Wenn ich Sie aber bitten würde, mich zu packen und über Bord zu werfen … da hört sich doch die Gefälligkeit, die Hilfsbereitschaft auf. Irgendwo endets doch … dort, wo man anfängt mit seinem eigenen Leben, seiner eigenen Verantwortung … irgendwo muß es doch enden … irgendwo muß diese Pflicht doch aufhören … Oder vielleicht soll sie gerade beim Arzt nicht aufhören dürfen? Muß der ein Heiland, ein Allerweltshelfer sein, bloß weil er ein Diplom mit lateinischen Worten hat, muß der wirklich sein Leben hinwerfen und sich Wasser ins Blut schütten, wenn irgendeine … irgendeiner kommt und will, daß er edel sei, hilfreich und gut? Ja, irgendwo hört die Pflicht auf … dort, wo man nicht mehr kann, gerade dort …«
    Er hielt wieder inne und riß sich auf.
    »Verzeihen Sie … ich rede gleich so erregt … aber ich bin nicht betrunken … noch nicht betrunken … auch das kommt jetzt oft bei mir vor, ich gestehe es Ihnen ruhig ein, in dieser höllischen Einsamkeit … Bedenken Sie, ich habe sieben Jahre fast nur zwischen Eingeborenen und Tieren gelebt … da verlernt man das ruhige Reden. Wenn man sich dann auftut, flutets gleich über … Aber warten Sie … ja, ich weiß schon … ich wollte Sie fragen, wollte Ihnen so einen Fall vorlegen, ob man die Pflicht habe zu helfen … so ganz engelhaft rein zu helfen, ob man … Übrigens ich fürchte, es wird lang werden. Sind Sie wirklich nicht müde?«
    »Nein, durchaus nicht.«
    »Ich … ich danke Ihnen … Nehmen Sie nicht?«
    Er hatte irgendwo hinter sich ins Dunkel getappt. Etwas klirrte gegeneinander, zwei, drei, jedenfalls mehrere Flaschen, die er neben sich gestellt. Er bot mir ein Glas Whisky, an dem ich flüchtig nippte, während er mit einem Ruck das seine hinabgoß. Einen Augenblick stand Schweigen zwischen uns. Da schlug die Glocke: halb eins.

    »Also … ich möchte Ihnen einen Fall erzählen. Nehmen Sie an, ein Arzt in einer … einer kleineren Stadt … oder eigentlich am Lande … ein Arzt, der … ein Arzt, der …« Er stockte wieder. Dann riß er sich plötzlich den Sessel heran zu mir.
    »So geht es nicht. Ich muß Ihnen alles direkt erzählen, von Anfang an, sonst verstehen Sie es nicht … Das, das läßt sich nicht als Exempel, als Theorie entwickeln … ich muß Ihnen meinen Fall erzählen. Da gibt es keine Scham, kein Verstecken … vor mir ziehen sich auch die Leute nackt aus und zeigen mir ihren Grind, ihren Harn und ihre Exkremente … wenn man geholfen haben will, darf man nicht herumreden und nichts verschweigen … Also ich werde Ihnen keinen Fall erzählen von einem sagenhaften Arzt … ich ziehe mich nackt aus und sage: ich … das Schämen habe ich verlernt in dieser dreckigen Einsamkeit, in diesem verfluchten Land, das einem die Seele auffrißt und das Mark aus den Lenden saugt.«
    Ich mußte irgendeine Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach sich.
    »Ach, Sie protestieren … ich verstehe, Sie sind begeistert von Indien, von den Tempeln und den Palmenbäumen, von der ganzen Romantik einer Zweimonatsreise. Ja, so sind sie zauberhaft, die Tropen, wenn man sie in der Eisenbahn, im Auto, in der Rikscha durchstreift: ich habe das auch nicht anders gefühlt, als ich zum erstenmal herüber kam vor sieben Jahren. Was träumte ich da nicht alles, die Sprache wollte ich lernen und die heiligen Bücher im Urtext lesen, die Krankheiten studieren, wissenschaftlich arbeiten, die Psyche der Eingeborenen ergründen – so sagt man ja im europäischen Jargon – ein Missionar der Menschlichkeit, der Zivilisation werden. Alle, die kommen, träumen denselben Traum. Aber in diesem unsichtbaren Glashaus dort geht einem die Kraft aus, das Fieber – man kriegts ja doch, mag man noch so viel Chinin in sich fressen – greift einem ans Mark, man wird schlapp und faul, wird weich, eine Qualle. Irgendwie ist man als Europäer von

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