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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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dieser Welt blieb mir auch weiter verborgen.
    Eines Abends jedoch hatte ich das Gefühl, der Boden schwanke unter meinen Füßen.
    Meine Eltern waren uns nachgereist. Eines Nachmittags ging Louise mit mir und meiner Schwester zu einem Volksfest, wo wir uns sehr amüsierten. Als wir den Festplatz verließen, begann es schon dunkel zu werden. Wir schwatzten, lachten, und ich knabberte an einem jener künstlichen Objekte, die mir so gut gefielen – einer Schwalbe, die aus Lakritzen bestand –, als Mama an einer Straßenecke erschien. Sie trug einen Schal aus grünem Musselin um den Kopf, und ihre Oberlippe sah wie geschwollen aus: Was fiel uns denn ein, so spät nach Hause zu kommen? Sie war die Ältere, sie war die ‹gnädige Frau›, sie hatte das Recht, Louise zurechtzuweisen; aber ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck wollten mir nicht gefallen; es gefiel mir auch nicht, in Louises geduldigen Augen etwas aufglimmen zu sehen, was nicht durchaus von Ergebenheit sprach. An jenem Abend – oder war es ein anderer? In meinem Gedächtnis jedenfalls sind diese beiden Ereignisse eng miteinander verknüpft geblieben – hielt ich mich mit Louise und einer anderen Person, die ich nicht mehr zu identifizieren vermag, unten im Garten auf; es war dunkel; in der düsteren Fassade öffnete sich ein Fenster, hinter dem ein erleuchtetes Zimmer lag; man erkannte zwei Silhouetten und hörte erregte Stimmen. «Das sind Monsieur und Madame, die sich streiten», bemerkte Louise dazu. In diesem Augenblick geriet mein Weltbild ins Wanken. Es war doch ganz unmöglich, dass Papa und Mama sich als Feinde gegenüberstanden oder dass Louise ihre Feindin war; tritt aber das Unmögliche ein, so vermischen sich Himmel und Hölle, Licht und Finsternis. Ich stürzte in das Chaos zurück, das vor der Schöpfung da gewesen war.
    Dieser Albdruck hielt nicht lange an; am folgenden Tag in der Frühe hatten meine Eltern das Lächeln und die Stimme wiedergefunden, die ich an ihnen kannte. Louises hämisches Kichern lag mir noch auf der Seele, doch setzte ich mich darüber hinweg; es gab viele kleine Fakten, die ich derart im Nebel verschwinden ließ.
    Diese Fähigkeit, schweigend über Ereignisse hinwegzugehen, die ich gleichwohl deutlich genug erlebte, um sie nie zu vergessen, bleibt für mich einer der frappantesten Züge, wenn ich mich an meine ersten Jahre zurückerinnere. Die Welt, wie man sie mich kennen lehrte, gruppierte sich harmonisch um ein festes Koordinatensystem und war in klar unterschiedene Kategorien eingeteilt. Neutrale Begriffe gab es nicht; zwischen Verräter und Held, Abtrünnigem und Märtyrer war keine Mitte denkbar; jede Frucht, die man nicht essen konnte, war eine giftige Frucht; man wiegte mich fest in dem Glauben, dass ich sämtliche Mitglieder meiner Familie ‹liebte›, darunter auch Großtanten, an denen wahrlich nichts Gewinnendes war. Schon zur Zeit meines frühesten Stammelns strafte meine Erfahrung einen solchen Essenzialismus Lügen. Weiß war nur selten wirklich weiß, die Schwärze des Bösen blieb meinen Augen verborgen: Ich sah überall nur verschiedene Nuancen von Grau. Nur musste ich, sobald ich diese undeutlichen Abstufungen erfassen wollte, mich der Worte bedienen und fand mich dadurch in die Welt der starren Begriffe zurückversetzt. Was ich mit meinen Augen sah, was ich ein für alle Mal als Erfahrung buchte, musste sich wohl oder übel in diesen Rahmen einfügen; Mythen und Klischees bekamen den Vorrang vor der Wahrheit; unfähig, diese zu fixieren, ließ ich zu, dass sie in Bedeutungslosigkeit versank.
    Da es mir nicht möglich war, außer mit Hilfe der Sprache zu denken, ging ich von der Voraussetzung aus, dass diese sich genau mit der Wirklichkeit decke; ich wurde durch die Erwachsenen, die ich für die Bewahrer des Absoluten hielt, in sie eingeweiht: Wenn sie eine Sache bezeichneten, glaubte ich, sie drückten damit ihre Substanzen in dem gleichen Sinne aus, wie man den Saft einer Frucht ‹ausdrückt›. Zwischen Wort und Ding stellte ich mir demgemäß nicht den kleinsten Abstand vor, der Raum für Irrtümer bot; so erklärt es sich, dass ich mich dem Wort kritiklos, ohne Nachprüfung unterwarf, selbst dann, wenn die Umstände mich zum Zweifel aufforderten. Zwei meiner Vettern Sirmione lutschten an Stangen aus Traubenzucker. «Es ist ein Abführmittel», erklärten sie augenzwinkernd; ihr hämisches Lachen belehrte mich, dass sie sich über mich lustig machten; dennoch verband sich dieses Wort von

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