Und führe uns nicht in Versuchung: Kriminalroman (German Edition)
Kapitel 1
Früher hatte ich gar keine Hobbys. Das war zu der Zeit, als Anneliese Duftradiergummis zu sammeln begann. Und Klebebilder aus Duplos, mit Fußballern von Bayern München beispielsweise, das war echt was wert. Bei Anneliese entwickelte sich diese Sammeltradition kontinuierlich weiter. Nach einer Weile waren Duftradiergummis total out und plötzlich nur noch Tees von Interesse. Natürlich meist aromatisierte – ihr größter Favorit war ein Schwarztee mit Mangogeschmack. Ich kannte damals überhaupt keine Mangos. Und Schwarztee mit Mangogeschmack fand ich ziemlich widerlich. Aber ich traute mich nichts dagegen zu sagen, weil ich ja überhaupt kein Hobby hatte. Da konnte ich schlecht über Mangos lästern.
Bei uns zu Hause wurde nichts gesammelt, sondern nur aufgehoben. Deshalb habe ich mit meinem Hobby auch erst angefangen, als ich schon längst erwachsen war. Wobei nicht ich mein Hobby gefunden habe, sondern mein Hobby mich und ich im Grunde auch gut und gerne darauf hätte verzichten können. Denn wenn ich etwas noch widerlicher fand als Mangos, dann waren es Leichen. Leichenfinden ist jetzt nicht das klassische Hobby, mag man einwenden, und das ist auch durchaus richtig, denn es ist nichts, worüber man abendelang sprechen möchte. Aber gegen bestimmte Entwicklungen im Leben kann man einfach nichts unternehmen.
Nicht ahnend, was mir noch alles passieren sollte, fand ich den Tag ganz gut, auch wenn das Wetter nicht so sonnig wie angekündigt war, sondern ziemlich schwül. Ganz weit im Westen türmten sich bereits Gewitterwolken auf. Normalerweise wäre ich bei diesem Wetter niemals auf mein Rad gestiegen. Um genau zu sein, stieg ich grundsätzlich ungern auf mein Rad. Denn bei uns war es nicht so wie in der Stadt. In der Stadt fuhren ganz viele Leute mit dem Fahrrad, es gab Radwege und Fahrradhelme. Und Autofahrer, die anhielten, wenn ein Radfahrer ihren Weg kreuzte.
Aber hier auf dem Land, da gab es nur Leute, die viel zu schnell Auto fuhren, Radfahrer frech anhupten und ihnen den Vogel zeigten, wenn sie sich nicht gleich in den Straßengraben warfen, um den motorisierten Verkehrsteilnehmern auszuweichen. Und mit Radlhelm schämte man sich hier zu Tode. Der Einzige, der bei uns einen Radlhelm trug, war der Meilinger. Aber den nahm hier sowieso keiner für voll, weil er nämlich sowohl evangelisch war als auch die SPD wählte. Da machte der Radlhelm das Kraut auch nicht mehr fett, wie meine Großmutter zu sagen pflegte.
Aber ausgerechnet heute stand mein Auto mit tropfenden Bremsleitungen beim Luke. Und weil der wieder sonst was machte, nur nicht mein Auto reparierte, musste ich mich der Bedrohung des Radfahrens aussetzen. Noch schlimmer war, dass ich eine äußerst faule Natur bin und eine Abkürzung genommen hatte, eine äußerst gefährliche Strecke durch den Wald, entlang derer – meiner Großmutter zufolge – hinter jedem Baum ein potenzieller Vergewaltiger saß. Bis jetzt hatte sich noch keiner hervorgetraut, aber wer wusste schon, wie lange diese trügerische Ruhe noch anhielt.
Die Überlegung, was mich in der Redaktion erwartete, brachte mich auf andere Gedanken. Seit Neuestem war ich nämlich von der Volontärin zur richtigen Journalistin aufgestiegen und bekam auch richtige Aufträge. Gerade gestern hatte ich den ersten bekommen, der nichts mit unserem Dorf zu tun hatte. Das war praktisch der Ritterschlag und dazu gleich etwas, das man als Auslandsauftrag gelten lassen konnte. Denn es ging um die Chancen und Risiken von Facebook und Co., und bei dem Thema stellte sich die Informationssituation im Dorf recht mager dar. Das bedeutete blöderweise auch, dass ich dazu nicht wie gewohnt Großmutter oder den Schmalzlwirt befragen konnte, die keine Ahnung von Social Media hatten, aber vielleicht konnte ich dann auf das zurückgreifen, was mich mein Kollege Kare in den letzten Jahren gelehrt hatte, nämlich großzügig Wissen von Wikipedia in mein Geschreibsel zu kopieren.
Als es wieder ein wenig bergab ging, genoss ich trotz der Nähe zu den potenziellen Vergewaltigern die Fahrt. Die lästigen Bremsen wurden fortgeblasen, der Fahrtwind kühlte die schwitzige Haut. Und dann roch es so gut. Nichts geht über den Geruch von Kiefernnadeln in einem warmen Wald, das ist einfach unbeschreiblich. Anneliese würde mir nicht glauben und anmerken, dass sie lieber kiefernnadelaromatisierten Tee trank. Weil Anneliese auch in den nächsten einhundertfünfzig Jahren nicht den Unterschied zwischen
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