Meridian - Flüsternde Seelen
eines Sterbenden gehalten und Dinge gesehen hatte, die ich eigentlich nicht hätte sehen sollen. »Dann habe ich es mir also nicht nur eingebildet?«
»Was?« Sie lehnte sich an die Wand, als befürchtete sie, ich könnte wieder in Panik geraten. Ich hatte Verständnis für ihre Vorsicht.
»In letzter Zeit schlafe ich immer ein, wenn sie sterben. Ich habe dann einen Geschmack im Mund und kenne Rezepte und Speisen, ohne zu wissen, woher. Ist das bei dir auch so?«
»Wahrscheinlich fällst du vor lauter Anstrengung in Ohnmacht, wenn sie versuchen, durch dich überzugehen. Aber du bist erst mit sechzehn ein richtiges Fenster. Stehst du in deinen Träumen an Fenstern?«
»Nein, nie. Ich träume von meiner Mom oder von anderen Orten. Aber hauptsächlich kann ich die Lieblingsgerichte der Verstorbenen schmecken und auch nachkochen.«
»War das schon immer so?«
»Nein, ich meine, gekocht habe ich schon immer, aber so ist es erst, seit vor einem Jahr Mini zu uns gekommen ist. Nach Nicoles Ankunft wurde es schlimmer, doch ich dachte, es liege daran, dass ich mehr Zeit zum Ausspannen hatte …«
»Minerva ist keine gewöhnliche Katze. Ich glaube, sie hat dir geholfen, die Seelen übergehen zu lassen, um dich zu schützen.«
Da mir die Knie weich wurden, setzte ich mich auf die Toilette. »Ist Nicole tot? Kann es sein, dass sie im Tornado umgekommen ist?«
Meridian reichte mir ein flauschiges Handtuch. »Keine Ahnung. Vielleicht. Allerdings glaube ich nicht, dass sie bei Ms. Asura und Kirian ist.«
»Sie glaubt an Engel«, sagte ich und dachte an Nicoles Halskette.
»Du nicht?«
»Es ist schwierig, an etwas zu glauben, das die Existenz einer Hölle wie das DG zulässt.«
»Du hast Anteile von einem Engel in dir. Und es gibt dich wirklich. Ich weiß, es ist eine ganze Menge auf einmal. Aber könnte Nicole vielleicht dein …«
Ich unterbrach sie. »Also will Ms. Asura mich gegen die kleinen Kinder eintauschen. Oder Kirian möchte, dass ich mit ihm fortgehe. Warum machen die das?«
»Sie sind Aternocti, die die Sterbenden in die Hölle bringen. Sie versuchen alles, damit wir so werden wie sie. Oder sie töten uns. Jetzt glauben sie, dass du morgen Geburtstag hast und sich dein Fenster öffnet. Vielleicht überreden sie dich zuerst auf die nette Tour, dich ihnen anzuschließen. Aber wenn das nicht klappt, verschleppen sie dich wahrscheinlich und zwingen dich, dich zu verwandeln.«
»Soll das heißen, dass Ms. Asura zu den Aternocti gehört?«
»Ja. Und ich vermute, Kirian …«
Ich legte den Kopf zwischen die Knie und rang nach Atem.
Meridian rutschte auf den Boden hinunter und setzte sich mir zu Füßen. »Ich weiß, dass es ziemlich viel auf einmal ist. Tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte es dir erleichtern. Wirklich. Die gute Nachricht ist, dass sich dein Fenster erst im März öffnet. Also haben wir Zeit. Falls wir das hier überstehen, haben wir Zeit.«
»Falls wir das überstehen?«
»Richtig«, flüsterte Meridian.
»Was, wenn ich mit Kirian fortgehe?«, fragte ich. »Lassen sie Bodie und Sema dann frei?«
»Das ist deine Entscheidung. Wir können dich nicht aufhalten.«
»Ich muss Bodie und Sema beschützen.« Gedanken und Bilder wirbelten mir im Kopf herum, bis ich das Schwindelgefühl nicht mehr ertragen konnte.
»Ich weiß.«
Liebte Kirian mich wirklich? Oder war es nur ein Trick? Bevor er fort musste, hatte es eine Zeit gegeben, in der wir, in Decken gewickelt, frühmorgens am Ufer des Flusses gelegen und über unsere Zukunft und die Familie gesprochen hatten, die wir zusammen gründen wollten. Über die Länder, die wir gemeinsam bereisen würden. Er war der einzige Mensch gewesen, der meine Welt weniger beängstigend gemacht hatte. »Er liebt mich.« Außer Nicole und Mini konnte ich mich nur noch auf ihn verlassen.
»Klar.«
»Nein, er muss mich einfach lieben.«
Meridian zögerte. »Ich habe letztens am Fluss ein Gespräch zwischen einer Frau und einem jungen Mann belauscht.«
»Wann?«
»Ich war unterwegs zu dir. Minerva hat mich zum Stolpern gebracht. Die Frau – ich glaube, es war Ms. Asura – hat den Mann angewiesen, alles zu tun, was nötig ist, um ›Romeo‹ zu sein.«
Ich schnappte nach Luft. Ich hatte Kirian stets leise »Romeo« genannt, wenn niemand in der Nähe war.
»Ich denke, der Mann war Kirian. Vielleicht hat er sich ja verändert.« Sie sprach jedes Wort widerstrebend aus.
»Ist Tens dein Freund?«, fragte ich.
»Er ist mehr als das, er ist ein
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