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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dfg
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in einen Schrank in einem entlegenen Zimmer. Als ein Diener den Kleinen dort am nächsten Tag halb ohnmächtig fand, behauptete der, sich selbst eingeschlossen zu haben; er wußte, die Wahrheit hätte keiner geglaubt. Ein anderes Mal entdeckte er weißes Pulver in seinem Essen. Er verstand genug von Chemie, um zu erkennen, daß es Rattengift war. Mit zitternden Händen schob er den Teller weg. Von der anderen Seite des Tisches sah ihn der ältere anerkennend mit unergründlich hellen Augen an.
Niemand konnte leugnen, daß es im Schloß spukte. Nichts Spektakuläres, bloß Schritte in leeren Gängen, Kinderweinen ohne Ursprung und manchmal ein schemenhafter Herr, der mit schnarrender Stimme darum bat,ihm Schuhbänder, kleine Spielzeugmagneten oder ein Glas Limonade abzukaufen. Unheimlicher als die Geister aber waren die Geschichten über sie: Kunth gab den beiden Jungen Bücher zu lesen, in denen es um Mönche ging, um offene Gräber, Hände, die aus der Tiefe ragten, in der Unterwelt gebraute Elixiere und Séancen, bei denen Tote zu schreckensstarren Zuhörern sprachen. Solches kam gerade in Mode und war noch so neu, daß keine Gewohnheit gegen das Grauen half. Das sei nötig, erklärte Kunth, die Begegnung mit dem Dunkel sei Teil des Heranwachsens, wer metaphysische Angst nicht kenne, werde nie ein deutscher Mann. Einmal stießen sie auf eine Geschichte über Aguirre den Wahnsinnigen, der seinem König abgeschworen und sich selbst zum Kaiser ernannt hatte. In einer Alptraumfahrt ohnegleichen waren er und seine Männer den Orinoko entlanggefahren, an dessen Ufern das Unterholz so dicht war, daß man nicht an Land gehen konnte. Vögel schrien in den Sprachen ausgestorbener Völker, und wenn man aufblickte, spiegelte der Himmel Städte, deren Architektur offenbarte, daß ihre Erbauer keine Menschen waren. Noch immer waren kaum Forscher in diese Gegend vorgedrungen, und eine verläßliche Karte gab es nicht
    Aber er werde es tun, sagte der jüngere Bruder. Er werde dorthin reisen.
Sicherlich, antwortete der Ältere.
Er meine es ernst!
Das sei ihm klar, sagte der Ältere und rief einen Diener, um Tag und Stunde zu bezeugen. Einmal werde man froh sein, diesen Augenblick fixiert zu haben.
In Physik und Philosophie unterrichtete sie Marcus Herz, Lieblingsschüler von Immanuel Kant und Ehemann der für ihre Schönheit berühmten Henriette. Er goß zwei Substanzen in einen Glaskrug: Die Flüssigkeit zögerte einen Moment, bevor sie mit einem Schlag die Farbe wechselte. Er ließ Wasserstoff aus einem Röhrchen strömen, hielt eine Flamme an die Mündung, und mit einem Jauchzen schoß das Feuer auf. Ein halbes Gramm, sagte er, zwölf Zentimeter hoch die Flamme. Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee sie zu messen.
In Henriettes Salon trafen sich einmal in der Woche gebildete Leute, sprachen über Gott und ihre Gefühle, weinten ein wenig, schrieben einander Briefe und nannten sich selbst die Tugendbündler. Niemand wußte mehr, wer auf diesen Namen gekommen war. Ihre Gespräche mußten nach außen hin geheimgehalten werden; aber anderen Tugendbündlern hatte man über alles, was einem in der Seele vorging, offen und mit Ausführlichkeit Auskunft zu geben. Ging einem nichts in der Seele vor, mußte man etwas erfinden. Die zwei Brüder waren die jüngsten. Auch dies sei nötig, sagte Kunth, und sie dürften keinesfalls ein Treffen versäumen. Es diene der Herzensbildung. Ausdrücklich ermutigte er sie, an Henriette zu schreiben. Eine Vernachlässigung sentimentalischer Kultur in frühen Lebensphasen könne später unerfreuliche Folgen zeitigen. Es verstand sich von selbst, daß ihm jedes Schreiben vorgelegt werden mußte. Wie erwartet, waren die Briefe des älteren Bruders die besseren.
Henriette antwortete ihnen höflich, in einer unsicheren Kinderschrift. Sie war selbst erst neunzehn. Ein Buch, das ihr der jüngere geschenkt hatte, kam ungelesen zurück:  L’homme machine  von La Mettrie. Dieses Werk sei verboten, ein verabscheuungswürdiges Pamphlet. Sie bringe es nicht über sich, es auch nur aufzuschlagen.
Das bedauere er, sagte der jüngere Bruder zum älteren. Es sei ein bemerkenswertes Buch. Der Autor behaupte ernstlich, der Mensch sei eine Maschine, ein automatisch agierendes Gestell von höchster Kunstfertigkeit.
Und ohne Seele, antwortete der Ältere. Sie gingen durch den Schloßpark; der Schnee lag dünn auf kahlen Bäumen.
Nein, widersprach der Jüngere. Mit Seele. Mit Ahnungen und

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