Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
der Niederlage. Die olympische Devise »Dabei sein ist alles!« kann hier nicht mehr genügen. Sie ist untauglich für Helden.
Es entsteht eine paradoxe Situation: Indem der Held eine seltsame Spaltung zwischen seinem heroischen und seinem unheroischen Selbst vollzieht, wird der Sieg durch die Niederlage errungen und nicht selten durch die Vernichtung besiegelt. Ein klassischer Pyrrhussieg.
Risiko- und Extremsport versprechen die Wiederbelebung verlorener Raumerlebnisse. Es müssen große oder unwirkliche Räume durchschritten, durchlaufen, durchschwommen oder durchklettert werden. Je mehr sich diese Erlebnisse von den bequemen und leicht herzustellenden virtuellen oder unheroisch modernen Reiseerfahrungen unterscheiden, das heißt, je mühsamer, anstrengender, ja quälender sie sind, umso eher stellen sich die vermissten Raumerlebnisse ein. Man spürt den Raum beim mühevollen Durchqueren unmittelbar und gegenwärtig.
Die Verlockung des heroischen Risikosports besteht auch in einem einzigartigen Gegenwartserlebnis. Vergangenheit und Zukunft spielen keine Rolle mehr und können daher beim dichten und intensiven Erleben der Gegenwart nicht stören. Zeit wird als intensive Gegenwärtigkeit erlebt, so wie in ekstatischen Glückszuständen, wo bekanntlich dem Glücklichen auch keine Stunde schlägt und er zum Augenblick sagt: Verweile doch, du bist so schön!
Die Gegenwart wird in all ihrer Intensität ausgedehnt, ungetrübt durch vorauseilendes oder reflektierendes Denken – bis hin zu einem Zustand von Gegenwart, in dem es keine Zukunft mehr gibt, weil gestorben wird.
Heldentod eines Fußballers
Auch beim Fußball gibt es Helden. Fußballer vollbringen gelegentlich Wunder, wie zum Beispiel in Bern, werden in Deutschland zum Kaiser (Franz) gesalbt, in Südamerika gar als Fußballgötter verehrt wie Diego Maradona, dessen Hand ja bekanntlich die Hand Gottes ist. Dennoch gehört Fußball nicht zu den ausgesprochenen Risikosportarten. Beim Berglauf an der Zugspitze starben mehr Läufer auf der Rennstrecke als normalerweise bei einem Fußballspiel auf dem Rasen. Dennoch scheint auch das Fußballspielen riskant zu sein, zumindest für manche Spieler.
Am Dienstag, den 10. November 2009 lässt sich Robert Enke, Torwart in der deutschen Nationalmannschaft, im niedersächsischen Neustadt am Rübenberge von einem Nahverkehrszug hinrichten. Kurz vor halb sechs war er mit seinem schwarzen Geländewagen hinaus zu der Bahnstrecke gefahren, die von Bremen nach Hannover führt. Nahe dem Haltepunkt Neustadt-Eilvese, etwa zehn Meter von den Gleisen entfernt, lässt er sein Auto stehen. Er schließt nicht ab. Auf dem Beifahrersitz hinterlässt er seine Geldbörse. Dann läuft er los. Immer den Bahndamm entlang. Auf der anderen Seite der Gleise beginnen die Felder.
Der Regionalexpress RE4427 hat auf Höhe des Örtchens Eilvese etwa eine Geschwindigkeit von 160 Stundenkilometern.
Am Vormittag ist Enke noch bei seinem Verein Hannover 96 zum Training erschienen und war fest entschlossen, den Rückstand wieder aufzuholen, den er einem Infekt zu verdanken hat. Am vergangenen Sonntagnachmittag hatte er beim Spiel Hannover 96 gegen den Hamburger SV im Tor gestanden. Fünf Tage später, am 15. November, herrscht in Deutschland Volkstrauer. Die größte Trauerfeier seit der Beerdigung Konrad Adenauers findet statt.
40000 Menschen befinden sich auf einem Trauermarsch für Robert Enke durch Hannover. Warum eigentlich? Ehrten sie damit Robert Enkes überragende Qualitäten als Torwart? Wohl kaum. Enke stand zwar im Tor der Nationalmannschaft, aber das auch nur sieben Mal. Wie hätte dann erst die Beerdigung von Fritz Walter aussehen müssen?
Nein, es muss andere Gründe für diese massenhafte Anteilnahme geben. Enke brachte uns den Tod in Erinnerung, und zwar den Tod, der sich mitten im Leben ereignet. Theoretisch wissen wir zwar alle (vielleicht), dass wir sterben müssen, doch man wird an die Wirklichkeit des Todes dann erinnert, wenn ein Mensch, den man eben noch lebendig gesehen hat, ganz plötzlich stirbt. Gerade noch im Tor gegen den HSV, noch schnell ein Interview und Ende. Ein klassischer Heldentod.
Robert Enke bot sich wohl vielen Menschen als Identifikationsfigur an. Deshalb geschah nach seinem Tod etwas, was seit dem Tod von Prinzessin Diana als Princess-Diana-Effekt bezeichnet wird: Ein Fremdweinen, bei dem Menschen ihren eigenen Kummer in die Nöte einer öffentlichen Figur gießen.
Am deutlichsten zeigte sich diese
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