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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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Firmengruppe war Ende 2008 in eine finanzielle Schieflage geraten. Adolf Merckle hatte sich an der Börse mit VW-Aktien verzockt. In der Folge wollten ihm dann mehr als dreißig Gläubigerbanken an die Wäsche. Sie wollten ihm nur noch einen Kredit gewähren, wenn er einwilligte, sich von einigen Firmenteilen zu trennen, darunter auch von der Ulmer Pharmafirma Ratiopharm, auf die er besonders stolz war. Merckle unterzeichnete schließlich nach zähen Verhandlungen eine Kreditstundung. Sein Lebensmotto – Mir ist fremd, etwas aufzugeben! – und die Tatsache, nicht mehr die Kontrolle über sein Firmengeflecht zu haben, müssen ihm wohl, bei allem Reichtum, als Gefühl der Schmach und Ohnmacht so sehr zugesetzt haben, dass er dort, wo er die Kontrolle auf keinen Fall aus der Hand geben wollte, handelte. Er nahm sich selbst das Leben. Er handelte im Hinblick auf den Tod, wie er es im Leben zu tun pflegte: Der Selbstmord ist die ultimative Form der Kontrolle, die uns zur Verfügung steht; das Heft in der Hand behalten bis zum Schluss, den man selbst bestimmt. Auch wenn er, wie Robert Enke, dazu Helfer rekrutierte, die ihrerseits nicht gefragt wurden, ob sie das Geschäft der Hinrichtung wirklich übernehmen wollten.
    Solche Selbsttötungen machen unbeteiligte Personen zu Vollstreckern. Dieses anmaßende Verhalten bleibt nicht ohne nachhaltige Wirkung auf die unfreiwillig Hineingezogenen: Ein beträchtlicher Teil der Zugführer leidet lange unter dieser Situation, viele geben ihren Beruf auf.
    Dabei gibt es auch andere Möglichkeiten. Sie erscheinen aber weniger heroisch: Am 16. März 1938 nahm sich der jüdische Kulturphilosoph Egon Friedell in Wien das Leben, nachdem sich zwei SA-Männer Zugang zu seiner Wohnung verschafft hatten. Er sprang aus dem Fenster seiner im dritten Stock gelegenen Wohnung, aber erst, nachdem er vorbeigehende Passanten gewarnt hatte: »Treten Sie bitte zur Seite!«

Heldenglauben
    Der Selbstmord Adolf Merckles macht deutlich, dass es nicht um wirtschaftliche Not ging, sondern um das heroische Selbstbild, das er sich aufgebaut hatte und das der Wirklichkeit nicht mehr standhielt. Es geht beim Heldenbild um Ehre, Autonomie und Kontrolle. Es geht um die Vorstellung von sich selbst als jemand, der mit allem und allen fertig wird und alles allein regeln kann. Und das macht man dann auch. Man bleibt seinem Glauben treu und geht aus eigenen Stücken in den Tod.
    Robert Enke und Adolf Merckle sind exemplarische Helden. Aber sind wir ihnen nicht auch ähnlich, sind wir ihnen nicht geistesverwandt, auch wenn wir keine Supersportler sind und kein Firmenimperium aufgebaut haben?
    Wie sagte schon Bert Brecht?
    »Unglücklich das Volk, das Helden braucht!«

2
    Wir hoffen uns zu Tode
    Zu den häufig gebrauchten und positiv bewerteten Begriffen gehören: Liebe, Glück, Fortschritt, Wohlstand, Freiheit und Autonomie. Zu den absoluten Topfavoriten zählen jedoch Optimismus und Hoffnung. Die Hoffnung hat dazu noch eine extrem lange Lebenserwartung. Sie soll ja angeblich zuletzt sterben, also dann, wenn alles andere schon tot ist. Und das nicht erst seit gestern. Die Halbwertszeit der Hoffnung scheint sehr lang zu sein. Die Hoffnung wäre dann eine Art von radioaktiv strahlendem Material – zwar einem Zerfallsprozess unterworfen, aber einem sehr langsamen Zerfallsprozess. Wie soll man diesen Verlust der radioaktiven Strahlkraft der Hoffnung werten? Negativ, weil radioaktive Energie verloren geht, oder positiv, weil durch den Verlust die Gesundheit weniger geschädigt wird? So oder so stellen sich Fragen nach den Möglichkeiten der Wiederaufbereitung bzw. des sicheren Endlagers für den radioaktiven Hoffnungsmüll.

Krankheit als Chance?
    Gern wird der Gedanke geäußert, dass jede Krankheit – auch der Krebs – eine Chance sei. Und sogleich wird man aufgefordert, diese Chance zu nutzen, und zwar richtig. Worauf will die Krankheit mich hinweisen? Was ist an meinem Leben nicht stimmig? Was sollte ich in meinem Leben ändern? Fehler in der Lebensführung, beim Denken, beim Fühlen und beim Handeln sind aufzuspüren und zu korrigieren. Die Krankheit wird so, heißt es, zum Anstoß, das Leben zu überdenken und auf positive Art neu auszurichten.
    Der an Darmkrebs verstorbene Autor Robert Gernhardt griff diese Idee auf und schrieb während seiner Krebserkrankung einen Gedichtzyklus mit dem Titel »Krankheit als Schangse«. In einem dieser Gedichte [37]   beschäftigt er sich mit dem angeblichen Klugwerden

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