Mit den Augen eines Kindes
Fahrten der vergangenen Tage nicht sehr lange. Sie fuhr Autobahn, das sah er wohl, blieb auf der Überholspur, scherte sich nicht um Geschwindigkeitsbeschränkungen und fluchte nun auf die Bullen, die immer nur dann zur Stelle waren, wenn man sie nicht brauchte.
Irgendwann scherte sie dicht vor einem Kühllaster ein, trat auf die Bremse und zwang den Fahrer des Lasters damit ebenfalls zum Halt. Sie warf Oliver förmlich aus dem Wagen.
«Steig in den Laster, Konni, und sag deinem Papa – ach, vergiss es.»
Dann war sie weg.
Der Anruf, der Hanne zusammenzucken ließ, kam von einer Polizeiwache in Düren, dort hatte der Fahrer des Kühllasters ihn abgeliefert. Als Hanne aufschluchzte, nahm Helga Beske ihr den Hörer aus der Hand, sprach ein paar Worte mit dem Kollegen und reichte an mich weiter. Und ich hatte gleich sein Stimmchen im Ohr, atemlos, überschäumend, begierig, das wahnsinnige Abenteuer zu schildern, in allen Einzelheiten, sofort, auf der Stelle. «Boah, Papa, du glaubst nicht, wie die Frau Auto fahren konnte.»
Während Hanne ins Bad lief, sich halb schluchzend, halb lachend den Bademantel von den Schultern riss, ungeachtet der beiden Männer in unserem Wohnzimmer, erklärte Olli:
«Weißt du, was sie immer zu mir gesagt hat, Papa? Konni, hat sie gesagt. Sie kannte dich nämlich schon, als du noch klein warst. Sie hat mir auch was geschenkt, rate mal. Einen Rex. Für Sven hatte sie auch einen gekauft, aber den habe ich nicht mitgenommen, als wir ein Eis gegessen haben.»
Eine knappe halbe Stunde später hatten wir ihn wieder. Nie im Leben werde ich den Anblick vergessen, wie er da saß am Schreibtisch eines älteren Polizisten. Das grüne Plüschtier im Arm, löffelte er genüsslich einen Schokopudding mit Sahne aus einem Plastikbecher. Hanne riss ihn vom Stuhl in ihre Arme und küsste ihn, bis ihm das vor all den Zuschauern peinlich wurde.
Bis zum Freitagabend hatten wir von ihm genug Hinweise auf die Spur erhalten, die Maren gelegt hatte. Niemand glaubte, dass sich in der alten Villa bei Rendsburg noch jemand aufhalten könnte. Man wollte nur Spuren sichern, aber es brannte Licht. Odenwald und Bronko waren erneut dorthin zurückgekehrt, weil sie sich in dem Haus offenbar sicher fühlten.
Maren fand man im Keller. Sie lebte noch, aber nicht mehr lange genug, um die Ankunft des eilig herbeigerufenen Notarztes zu erleben. Bronko hatte sie noch schlimmer zugerichtet als Ella Godberg. Ich habe die Berichte gelesen, aber vorstellen kann ich mir das nicht, will ich auch nicht. Und vergessen, sie hat bestimmt nicht gemeint, ich solle sie vergessen, wie könnte ich das auch? Ich sehe sie immer noch vor mir wie bei unserem letzten Treffen im Hotel. Den makellosen Rücken, die Schultern unter dem weißblonden Haar und die perfekten Beine unter dem Handtuch. Und manchmal höre ich sie sagen:
«Schau dir das alles noch einmal gut an, Konni. Das sind Dinge, die du nie wieder anfassen wirst.»
Nein, jetzt bestimmt nicht mehr.
Was gibt es sonst noch zu erklären? Dass Alex Godberg sein Geld größtenteils zurückbekommen hat. Aber es hat ihn nicht interessiert. Für ihn war es wichtiger, dass die Sau geschlachtet worden war. Auch Bronko hat mit dem Leben bezahlt, sich einen Schusswechsel mit der Polizei geliefert und den Kürzeren gezogen. Nach dem Tod seines Erfüllungsgehilfen ließ Odenwald sich ohne weiteren Widerstand festnehmen. Er sitzt in U-Haft und wartet auf seinen Prozess.
Mir graut schon jetzt davor, dass meine Rolle in dem Drama vor Gericht noch einmal breitgewalzt wird. Bei der Verhandlung soll Oliver nicht aussagen müssen. Ihn will man vorher im Richterzimmer befragen, damit es für ihn nicht so belastend wird. Dass er es als Belastung empfinden würde, wage ich zu bezweifeln. Bisher hat es ihm noch jedes Mal gut gefallen, wenn er die Geschichte erzählen durfte. Je mehr Leute ihm zuhörten, umso besser. Hanne hat ihn tausendmal ermahnt, keine Übertreibungen, keine ausschmückenden Schlenker, die Wahrheit, nichts als die reine Wahrheit. Aber so eine Wahrheit gibt es wohl nicht.
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