Mit sich selbst befreundet sein
zunehmenden Abwesenheit anderer, von denen das Selbst sich berührt fühlen könnte, gewinnt im Alter diese Art von Berührung an Bedeutung.
Unwiderruflich ist die Grenze des Lebens nun der Horizont, die Schwelle zur »Nacht« dieses Tages, die vielleicht nur die Nacht vor einem neuen Morgen ist. Die Konfrontation mit dem Tod wird zum Anlass der Deutung des eigenen Lebens: Mehr als jemals zuvor machen Menschen sich beim Älterwerden daran, das Leben zu deuten und zu interpretieren und die Hermeneutik der Existenz zu betreiben. Im Gespräch oder Selbstgespräch, oft in Form von Erzählungen knüpfen sie Beziehungen zwischen den Bestandteilen, Ereignissen und Erfahrungen ihres Lebens, um den Zusammenhang zu finden, der für sie »Sinn macht«. Ein Leben lang repräsentierte den Sinn vielleicht ein Ziel, das nun aber nicht mehr zur Verfügung steht. Stattdessen kommt das gelebte Leben als Ganzes in den Blick: Die Zeit der Fülle und Erfüllung ist gekommen, in der es zu überblicken ist, und es wird gedeutet, gewogen und bewertet als Ganzes in dem Moment, in dem nicht mehr viel zu tun übrig bleibt. Diese Deutung ist der oberste Gerichtshof der eigenen Existenz, denn nur vor sich selbst, vor niemandem sonst hat das Selbst für sein Leben geradezustehen, und keineswegs ist ihm am Ende »egal«, wie dieses Leben gelebt worden ist. Nicht etwa die objektive Wahrheit des eigenen Lebens kann bei der Deutung in Frage stehen, sondern der subjektive Sinn, der plausibel erscheint und sich als tragfähig für das Leben angesichts des Todes erweist. Die Arbeit, dem Leben Sinn zu geben, ist teils eine retrospektive und bezieht sich auf das gelebte Leben, verbunden mit der Neuordnung dessen, was für wichtig und unwichtig gehalten wird: War es ein erfülltes Leben, ein schönes Leben, eine bejahenswerte Existenz? Was war daran schön, was nicht? Welche Träume gingen in Erfüllung, welche nicht? Teils aber handelt es sich um eine prospektive Arbeit, nun jedoch im Sinne einer möglichen Perspektive überdas Leben hinaus: Was ist darüber hinaus? Und was bleibt von diesem Leben zurück?
Im besten Fall überwiegt die Dankbarkeit für das Leben alle Beschwerlichkeiten des Alters. Sie kann ursächlich für die gelöste Heiterkeit des Alters sein, vergleichbar der Heiterkeit des Kindes, nun aber aufgrund eines umfänglichen Blicks auf das Leben, der vom Reichtum der Erfahrungen erst ermöglicht wird: Blick auf die Zeiten, in denen das Selbst sich entwickeln und entfalten konnte; Blick auf die Räume, die durchmessen worden sind; Blick auf die Wege, vor allem die Um- und Abwege, die sich rückblickend womöglich als das Spannendste am Leben erweisen. Der weite Blick begründet die Weisheit , die das Privileg des Alters ist, mit einer Besonnenheit, die den Aufgeregtheiten des Alltags nicht mehr verfällt; mit einem Blick für die gesamte Fülle der menschlichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten; mit einiger Kenntnis der Zusammenhänge und immer wiederkehrenden Regelmäßigkeiten des Lebens; mit einem umfangreichen Lebenwissen, auf dem die Abgeklärtheit der Weisheit beruht. Die Heiterkeit wird begleitet von einer Erfahrung der Schönheit , wenn das gesamte eigene Leben, das Leben überhaupt als bejahenswert erscheint, alle positiven und negativen, angenehmen und unangenehmen, oberflächlichen und abgründigen Erfahrungen umfassend; mit Blick auf die übergreifenden Strukturen und nachhaltigen Entwicklungen über das eigene Leben hinaus, im Hinblick auf das Leben künftiger Generationen. Das Glück des Alters ist, wie das des Kindes, ein Glück der Fülle . Die Fülle beruht jetzt jedoch auf der Grundlage des gelebten Lebens, auf der Erfahrung des gesamten Spektrums von Leben. Herbstlich reiche, reife Fülle also, die nur auf dem langen Weg, der zurückgelegt worden ist, erlangt werden konnte, durch mannigfache Schwierigkeiten hindurch. Nur einer letzten Balance bedarf das Selbst nun noch: Die Zeit der ultimativen Freude, das Werk des Lebens vollendet zu haben, ist aufzuwiegen gegen die Zeit der ultimativen Trauer, irgendwann davon Abschied nehmen zumüssen: Im Zusammenspannen beider Erfahrungen erst wird das Leben zum Kunstwerk.
»Euthanasie«? Sterben und Tod als Teil der Lebenskunst
Der Mensch wird geboren, lebt sein Leben und stirbt. Geburt und Leben sind nun mehr oder weniger bewältigt. Aber das Sterben? Dass zur ars vivendi eine ars moriendi gehört, wussten die Philosophen seit antiker Zeit: »Dasselbe ist die Sorge um das
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