MITTERNACHTSFLUT (German Edition)
„Doch, wollte ich, es war ja auch sonnig, sah nicht so schlimm aus“, gab sie etwas kleinlaut zu. „Marie!“ Manolo hob nur anklagend die rechte Augenbraue. „Heute ist Vollmond und die Flut setzt ein. Himmel nochmal! Langsam solltest du wissen wie tückisch das ist. Bei dieser Konstellation ist hier schon vieles passiert. Es gab sogar Tote. Bitte sei vernünftig. Wenn du unbedingt noch ins Wasser willst, dann warte bis zum Einbruch der Dämmerung – dann ist die Flut gerade auf dem Höhepunkt. Wobei heute ein besonderer Tag ist. Bei Vollmond ist hier alles ein klein wenig anders. Sicherer wäre heute die Badewanne.“ Manolo musste lachen, als er ihr entgeistertes Gesicht sah. „Schon gut, schon gut, dann geh eben unten schwimmen, du bist ja wahrlich eine gute Schwimmerin. Aber sei dennoch vorsichtig – dort unten lauert mehr als nur eine starke, unkontrollierbare Strömung!“ Mit diesen ernsten Worten und einem raschen Streicheln über Maries Wange, war er auch schon wieder verschwunden.
„Dort unten lauert mehr??“ Marie zuckte ratlos die Schultern. Sie kannte die Gefahren doch schon alle. Muränen, Haie, Strömungen und was weiß man was sonst noch alles. Das Meer eben - hier war so ziemlich alles geboten.
Vor allem aber herrlich klares Wasser, das – war das Wetter schön – in allen möglichen Blautönen schimmerte. Nach einer langen Dusche, bei der natürlich nach der Hälfte der Zeit das Wasser schon kühl wurde - dummer Boiler - fühlte Marie sich wieder hervorragend. Sie packte, an Manolos Rat denkend, die Badesachen für den späten Nachmittag ein. Es waren noch unzählige Bilder zu bearbeiten und sinnvoll zusammen zu stellen. Den restlichen Tag verbrachte sie also damit, auf ihrem kleinen Gartentisch und dem schönen Mosaikboden im Patio Bilder für ihren neuen Auftrag auszuwählen. Es war ein wirklich großer Auftrag eines Süßwarenproduzenten und schon mit den ersten Bildern hatte sie voll ins Schwarze getroffen. Der Kunde war „entzückt“ und ihr Konto zeigte sich nach der ersten Abschlagszahlung nicht weniger entzückt. Ja, ihr Leben hatte eine wunderbare Wendung genommen, ihr altes Leben in der Großstadt fehlte ihr kein bisschen. Als die Sonne tiefer sank, packte Marie die fertigen Bilder ein und war mit dem Erreichten sehr zufrieden. Sie speicherte die Bilder die sie ausgewählt hatte zusätzlich sorgsam auf eine CD, die sie gut verpackt zu Rosalia in ihren kleinen Laden brachte. Rosalias Bruder würde die Post am nächsten Morgen mitnehmen nach Santa Cruz. Somit konnte sie sich wieder ihrem Leben hier und Manolos unerschöpflichem Reichtum an Geschichten widmen. Bevor sie ihren Weg zum Strand antrat, gönnte sie sich noch einen heißen, duftenden Café con Leche, ohne den hier kein Nachmittag vergehen durfte.
Die Schatten in Maries kleinem Patio begannen sich in warmem Rot zu färben, als sie sich ihre Tasche schnappte und sich voller Vorfreude auf den Weg zum Meer machte. Ein traumhaftes Szenario erwartete sie. Die untergehende Sonne tauchte die Lavafelsen in ein warmes Orangerot und das Meer, das deutlich ruhiger war als noch vor wenigen Stunden, schimmerte silbrig blau. Sie sah sich um. Weit und breit war niemand zu sehen und Marie war darüber nicht böse. Sie mochte die Einsamkeit. Marie verstaute ihre Tasche ordentlich in einer kleinen Felsspalte nahe am Ufer, zog ihr dünnes Kleidchen aus und legte sich das Badetuch zurecht. Während sie über die Klippen die wenigen Meter zum Wasser hinunter kletterte, kam ihr kurz der Gedanke, dass sie etwas früher hätte kommen sollen, denn die Schatten waren doch lang geworden. Marie wischte die Bedenken beiseite, setzte sich auf die untersten Felsen und ließ sich ins Wasser gleiten. Sofort fühlte sie den kräftigen Sog, den das Wasser ausübte, wenn sich die Wellen zurück zogen. Auch wenn die Flut eigentlich in diesem Stadium nicht so stark war, die große Kraft der Strömungen blieb hier immer bestehen, doch Marie war eine ausgezeichnete Schwimmerin und so stieß sie sich ab und überließ sich dem Meer. Es war wundervoll, in kräftigen Zügen hinaus zu schwimmen.
Jedes Mal wenn Maries Arme an die Oberfläche kamen, lies die versinkende, rote Sonne ihre Haut wie Kupfer leuchten. Kleine, hüpfende goldene Lichter tanzten im Gegenlicht auf der Oberfläche. Sie holte Luft und tauchte kurz ab. Ein Schwarm bunter kleiner Fische schwamm direkt neben ihr. Fast schien es, als sähen sie herausfordernd zu ihr herüber. Ihre Flossen
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