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Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Titel: Dunkler Schlaf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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AUF DER WACHE, 4. SEPTEMBER, 16.00
     
    Jacob Skarre schaute auf seine Armbanduhr. Feierabend. Doch dann zog er ein Buch aus der Jackentasche und las das Gedicht auf der ersten Seite. Wie ein Virtual-Reality-Spiel, dachte er. Poff!, und schon steht man in einer anderen Landschaft. Die Tür zum Flur war offen, und plötzlich merkte er, daß jemand ihn ansah. Die Frau stand eindeutig außerhalb seines Blickfeldes. Sie war ganz einfach ein anderes Bewußtsein, das seines berührte. Er klappte das Buch zu.
    »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
    Sie rührte sich nicht, sie starrte ihn nur an. Skarre schaute in ihr angespanntes Gesicht, und plötzlich kam sie ihm bekannt vor. Sie war nicht mehr jung, vielleicht so um die Sechzig, und sie trug einen Mantel und dunkle Stiefel. Ein gemustertes Halstuch. Unter ihrem Kinn war ein Stück davon zu sehen. Es bildete einen merkwürdigen Kontrast zu ihrem sonstigen Tempo und ihrem Stil. Rennpferde und bunte Jockeys auf blauem Grund. Ihr Gesicht war breit und voll, das vorspringende Kinn schien es nach unten zu ziehen. Die dunklen Augenbrauen waren fast zusammengewachsen. Die Handtasche preßte sie gegen ihren Bauch. Vor allem aber fiel ihm ihr Blick auf. Die Augen leuchteten aus ihrem bleichen Gesicht. Sie hielten ihn fest, er kam nicht von ihnen los. Und dann erinnerte er sich. Was für ein Zufall, dachte er und wartete gespannt. Saß wie angenagelt in der Stille. Jeden Moment würde etwas sehr Wichtiges über ihre Lippen kommen.
    »Es geht um eine vermißte Person«, sagte sie endlich.
    Ihre Stimme war rauh. Ein rostiges Gerät, das nach langem Liegen knirschte. Skarre sah ein flackerndes Licht über ihre Iris huschen. Er wollte nicht voreingenommen sein, aber die Frau kam ihm vor, als sei sie besessen. In Gedanken ging er die Berichte des Tages durch, wußte aber nicht mehr, ob die psychiatrischen Einrichtungen in seinem Bezirk Vermißtenmeldungen aufgegeben hatten. Sie atmete schwer, das Herkommen schien ihr gewaltige Mühe gemacht zu haben. Aber nun war sie offensichtlich entschlossen. Skarre fragte sich, wie sie an der Rezeption und Frau Brenningens Falkenaugen vorbeigekommen und zu seinem Büro gelangt war, ohne angehalten zu werden.
    »Und wen vermissen Sie?« fragte er freundlich.
    Sie starrte ihn unverwandt an. Er erwiderte ihren Blick mit der gleichen Kraft, wollte sehen, ob sie auswich. Plötzlich schien sie verwirrt.
    »Ich weiß, wo er ist.«
    Skarre stutzte. »Das wissen Sie? Dann wird er gar nicht vermißt?«
    »Er lebt wohl nicht mehr lange«, sagte sie. Ihre dünnen Lippen fingen an zu zittern.
    »Wer denn?« fragte Skarre. Und fügte hinzu, weil ihm eine Ahnung gekommen war: »Reden Sie von Ihrem Mann?«
    »Ja. Von meinem Mann.«
    Sie nickte energisch. Stand da und drückte die Tasche gegen ihren Bauch. Skarre ließ sich in seinem Sessel zurücksinken.
    »Ihr Mann ist krank, und Sie machen sich Sorgen um ihn. Ist er alt?«
    Das war eine unangebrachte Frage. Leben ist Leben, solange es währt und jemandem etwas bedeutet. Vielleicht alles. Er bereute die Frage, griff nach einem Kugelschreiber und spielte damit herum.
    »Er ist fast wie ein Kind«, sagte die Frau traurig.
    Diese Antwort erstaunte ihn. Wovon redete sie eigentlich? Ihr Mann war krank, lag vielleicht im Sterben. Und senil war er noch dazu. In der zweiten Kindheit. Zugleich hatte Skarre das seltsame Gefühl, daß sie ihm etwas anderes erzählen wollte. Ihr Mantel hatte Noppen auf der Brust, und der mittlere Knopf saß nicht ganz an der richtigen Stelle, weshalb der Stoff eine Falte warf. Warum fällt mir das eigentlich auf? fragte er sich.
    »Wohnen Sie weit weg von hier?« Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. Vielleicht hatte sie kein Geld für ein Taxi. Sie hob den Kopf.
    »Prins Oscars gate 17.« Sie sprach die Konsonanten scharf aus. »Ich wollte nicht stören«, fügte sie hinzu.
    Skarre erhob sich. »Brauchen Sie Hilfe, um nach Hause zu kommen?«
    Sie starrte noch immer in seine blauen Augen. Als wollte sie etwas daraus mitnehmen. Eine Glut, eine Erinnerung an etwas so Lebendiges, wie der junge Polizeibeamte es war. Skarre hatte ein seltsames Gefühl – so, wie es sich ein seltenes Mal einstellt, wenn der Körper einer seiner Launen freien Lauf läßt. Er senkte den Blick und starrte seine Arme an. Die hellen Haare sträubten sich. In diesem Moment drehte die Frau sich langsam um und ging. Skarre folgte ihr bis zur Tür und schaute ihr hinterher. Ihre Schritte waren kurz und eckig, als versuche

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