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Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter

Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter

Titel: Monika B - Ich bin nicht mehr eure Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jaeckel
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nicht begriffen, was er mir da versprach? Warum hatte ich nichts bemerkt, nichts geahnt, nichts gefühlt? Warum, warum, warum?
    »Ich helfe dir!« Nie werde ich vergessen, wie er es sagte, in diesem ernsten Ton, das blau und grün geschlagene Gesicht zu einem Lächeln verzogen. »Ich helfe dir!«
    Boris, der mit ihm bis zuletzt zusammen gewesen war und auch den zerschmetterten Leichnam nach dem Sturz in 16 Meter Tiefe gefunden hatte, erzählte mir in vielen kummervollen Gesprächen, was geschehen war.
    Kurz nachdem ich das Haus verlassen hatte, war der einzige Freund bei uns vorbeigekommen, den Georg je hatte. Es war ein etwas zu dick geratener, oft gehänselter Bursche, dem es nichts ausmachte, dass auch Georg – dank seiner Familie – ein Außenseiter und Einzelgänger war. Selbst unsere heruntergekommene Wohnung, die keines von uns B.-Kindern jemals anderen Kindern vorzuführen gewagt hätte, störte ihn nicht. Georg war sein Freund, alles andere spielte keine Rolle.
    Während Georg wie versprochen meine Hausarbeit erledigte, berieten sie zu dritt, was sie mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen sollten. Georg schlug vor, auf der Rinderbachtal-Brücke zu spielen, die noch eine Baustelle war.
    »Nee, nee«, wandte Boris ein. »Du weißt doch genau, dass die Bullen da dauernd aufkreuzen, seit wir neulich den Scheiß mit den Gitterrosten fabriziert haben. Wenn die uns noch mal am Arsch kriegen, rastet Papa total aus. Er hat’s verboten, Mann! Wir gehen da nicht hin.«
    »Ich will aber«, sagte Georg. »Wenn du Schiss hast, bleibst du eben weg!«
    »Papa nagelt dich durch, ich sag’s dir!«, mahnte Boris erneut.
    »Na und?« Georg verzog das Gesicht. »Schlimmer als heute kann ich ja nicht mehr aussehen, oder?«
    Boris gab nach. Zu dritt zogen sie los. Unterwegs sprachen sie über die Streiche, die sie der Polizei in letzter Zeit gespielt hatten. Zum Beispiel hatten sie eine Stahltür geknackt, die in eine etwa einen Meter breite Kluft zwischen den beiden Betonfahrbahnen der Brücke führte. Kaum hatten Polizisten die aufgebrochene Tür bemerkt und neu gesichert, kannten meine Brüder und ein paar ihrer Kumpane kein schöneres Spiel, als das Schloss erneut zu knacken. Weil die Gelegenheit günstig war, ließen sie Werkzeuge und Materialien mitgehen, die sie anschließend für ein paar Mark verkauften. Zu guter Letzt kamen sie auf die Idee, einige der Roste, die zwischen den Stahlträgern in der Kluft der Fahrbahnteile angebracht waren, herauszuheben und in die Tiefe zu schmeißen. Niemand hatte Ersatzroste angebracht. Die Jungen kontrollierten es von Zeit zu Zeit genau.
    Irgendwann zwischen drei und vier Uhr gelangten die drei Jungen schließlich bei der Brücke an. Zusammen mit Georgs Freund durchstöberte Boris sogleich das Gelände nach Brauchbarem. Sie achteten nicht darauf, was Georg unterdessen trieb. Nicht einen Moment lang kam es Boris in den Sinn, dass Georg die Stahltür ohne fremde Hilfe öffnen und zu den Sicherheitsrosten der Brücke hinaufklettern könne.
    Plötzlich vernahmen sie von irgendwoher eine Stimme: »Boris!« Es war Georgs Stimme – aber von wo war sie gekommen?
    Sein Freund entdeckte ihn zuerst. »Da ist er!«, rief er aufgeregt und zerrte Boris am Arm. »Da!«
    Jetzt sah Boris ihn auch. »Mensch, lass den Mist!«, schrie er. »Komm da weg, du fällst!«
    In diesem Moment blieb Georg ganz ruhig stehen und wandte den Kopf in Richtung der anderen. Als er mit Boris Blickkontakt hatte, hob er kurz die Hand, als wolle er ihm zuwinken. Einen winzigen Moment später stürzte er durch die wegen der fehlenden Roste ungesicherte Kluft zwischen den Fahrbahnstreifen in die Tiefe.
    Die Fallhöhe betrug 16 Meter.
    »Er ist nicht ausgerutscht, Monika«, sagte Boris und erschrak selbst vor dem, was er damit ausdrückte. »Wenn einer das Gleichgewicht verliert, dann rudert er mit den Armen und hampelt herum und versucht, wieder Fuß zu fassen. Aber Georg, der hat nichts dergleichen getan. Er hat mir zugewunken, so als wollte er ›Ciao für immer‹ sagen, und dann hat er sich fallen lassen. Einfach so, wie ein Stein. Das hat er mit voller Absicht gemacht, Monika, das war kein Unfall. Er hat ›Ah!‹ geschrien, aber kein ›Hilfe‹ und kein Gezappel. Das Schreien hörte gar nicht mehr auf. Bis plötzlich nichts mehr war. Da habe ich gewusst, jetzt ist er tot, jetzt liegt er unten und ist nicht mehr. Und ich hatte doch die Verantwortung, irgendwie, weil ich doch älter bin und ihn nicht davon

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