Montana 04 - Vipernbrut
sie aus dem Fitnessstudio, hatte gemeinsam mit ihr mehrere Kurse besucht. Lissa, eine Sechsundzwanzigjährige mit kurzen schwarzen Haaren und einem Wahnsinnskörper, arbeitete als Rezeptionistin in einer ortsansässigen Anwaltskanzlei und war vor einer Woche als vermisst gemeldet worden. Als die Detectives nachhakten, stellte sich heraus, dass Lissa schon länger nicht mehr gesehen worden war. Ihr Freund und sie hatten eine schwere Zeit hinter sich, und er hatte beschlossen »dass sie etwas Abstand bräuchten«. Ihre Mitbewohnerin war vor einigen Wochen zu einer ausgedehnten Floridareise auf gebrochen und hatte bei ihrer Rückkehr eine leere Wohnung mit vergammelnden Bioprodukten im Kühlschrank vorgefunden. Lissas Handtasche, ihr Handy, Auto und Laptop waren ebenfalls verschwunden, doch in ihrem Schrank fehlte nichts; sämtliche Kleidungsstücke hingen auf Bügeln oder lagen ordentlich zusammen-gefaltet in den Fächern, der Wäschekorb im Schlafzimmer war voller verschwitzter Sportsachen.
Die Mitbewohnerin, der Freund und ein Ex-Freund hatten absolut wasserdichte Alibis. Es gab keinerlei Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen in die Wohnung oder auf einen Kampf. Alles sah so aus, als hätte Lissa das Apartment für den Tag verlassen, um am Abend dorthin zurückzukehren.
Nach ihrem Verschwinden hatte sie weder mit ihrem Handy telefoniert noch ihre Kreditkarte benutzt.
Alvarez gefiel das absolut nicht. Vor allem nicht die Tatsache, dass sie offenbar seit rund zwei Wochen wie vom Erdboden verschluckt war. Das war nicht gut. Gar nicht gut.
Und es sah ganz danach aus, dass es noch immer keine Spur von ihr gab.
Keine Leiche. Keinen Tatort. Kein Verbrechen.
Noch nicht.
Verdammt.
Man hatte sämtliche umliegenden Krankenhäuser überprüft, doch Lissa Parsons war nicht eingeliefert worden, auch keine unbekannte Frau. Nachfragen bei weiteren Behörden führten ebenfalls zu keinem Ergebnis.
Sie war einfach … verschwunden.
»Wo zum Teufel steckst du?«, fragte Alvarez laut und nahm einen Schluck von ihrem jetzt schon abgekühlten, aber noch lauwarmen Tee. Sie rechnete frühestens in einer Stunde mit ihrer Partnerin, doch erstaunlicherweise tauchte Regan Pescoli heute früher als üblich im Büro auf, einen Pappbecher Kaffee aus einem der auf dem Weg liegenden Coffeeshops in der Hand, das Gesicht gerötet, schmelzende Schneeflocken in den mühsam gebändigten roten Locken.
»Was tust du denn hier - um diese Uhrzeit?« Alvarez wirbelte auf ihrem Schreibtischstuhl herum und blickte ihre Partnerin fragend an. »Ist jemand gestorben?«
»Sehr komisch.« Pescoli nahm einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher. »Ich musste Bianca wegen ihres Tanztrainings früher an der Schule absetzen.« Bianca war Pescolis sechzehnjährige Tochter, die die Highschool besuchte und so eigensinnig wie schön war. Eine gefährliche Kombination, zudem war es nicht gerade förderlich, dass das Mädchen seine getrennt lebenden Eltern geschickt gegeneinander aus-zuspielen wusste. Was jedes Mal funktionierte. Obwohl Pescoli und ihr Ex seit Jahren geschieden waren, herrschte zwischen ihnen noch immer jede Menge Feindseligkeit, vor allem wenn es um die Kinder ging. Bianca und ihr älterer Bruder Jeremy, ein Dann-und-wann-College-Student, der zwischen seinen wiederholten Versuchen, auszuziehen und auf eigenen Beinen zu stehen, immer wieder Regans Wohnung belagerte, rieben sie beide auf.
»Ich dachte, die Tanztruppe würde nach der Schule üben.«
»Dann ist die Sporthalle belegt.« Pescoli blickte aus dem Fenster. »Basketball, Ringen, die Cheerleader, die Tanztruppe … was auch immer, alle beanspruchen die Halle für sich, und momentan hat meines Wissens Basketball oberste Priorität. Also muss Bianca in den beiden kommenden Wochen um sechs Uhr fünfundvierzig in der Schule sein.
Das bedeutet, dass sie um sechs aufstehen muss, was sie fast umbringt, wie du dir sicher vorstellen kannst.« Pescolis Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln bei dem Gedanken an den allmorgendlichen Kampf ihrer Tochter.
»Und das ist erst Tag eins. Es ist wirklich sehr hart, eine Prinzessin zu sein, wenn man zu solch nachtschlafender Stunde aus den Federn muss, >wenn jeder, der halbwegs bei Verstand ist, im Bett liegt<.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, wir ziehen eine Generation von Vampiren groß!«
»Vampire sind gerade total angesagt.«
»Da soll mal einer schlau draus werden!« Sie wurde ernst und deutete auf das Foto von Lissa Parsons, das
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