Der Hochzeitsvertrag
1. Kapitel
An der Südküste von England, 1856
Emily Loveyne hatte das Gartentor nur aufziehen wollen. Jetzt stand sie da, die lose Klinke in der Hand, und die lang vernachlässigte kleine hölzerne Tür brach mit einem Quietschen aus den Angeln und fiel zu Boden.
Bestürzt blickte sie in den verwilderten Garten. Dass sie, die Tochter des Pfarrers von Bournesea, sich einmal auf diese Weise widerrechtlich Zutritt zum Herrensitz verschaffen müsste, hätte sie nie für möglich gehalten.
Seufzend machte Emily einen Schritt vor, rupfte mit der bloßen Hand einige der Efeuranken und Winden fort, die den Zugang überwuchert hatten, und bahnte sich mit gerafften Röcken einen Weg durch das verbleibende Dickicht. Es war offensichtlich, dass diese Pforte schon seit Jahren nicht mehr als Einoder Ausgang benutzt worden war, so wie ihr Vater und sie das getan hatten, wenn sie ihn als Kind bei seinen Sonntagnachmittagsvisiten begleitet hatte, damals, als Lady Kendale noch lebte.
Der Weg von ihrem Cottage zum Herrenhaus hatte durch den Park, das kleine Tor und an den Rosenbeeten vorbeigeführt. Ihr Vater liebte Rosen. Nichts bereitete ihm mehr Freude als der Anblick dieser prächtigen Blumen, die aus den Ablegern gewachsen waren, die Lady Kendale ihnen für ihren Garten hatte geben lassen. Aber ach! Lady Kendales Rosensträucher waren, wie es aussah, schon lange nicht mehr gepflegt worden und mit Unkraut überwuchert.
Aber vermutlich wurden heutzutage ohnehin nur noch der Vorderoder der Seiteneingang benutzt. Unglücklicherweise waren die dekorativen schmiedeeisernen Flügel beider Tore fest verschlossen gewesen. Und stark bewacht. Von ungeschlachten, bärtigen Männern, die sie nicht kannte – ihrem Aussehen nach vermutlich Seeleute.
Eilig schritt Emily an den hohen Buchsbaumhecken, die die Mauern des Gartens flankierten, vorbei und auf das niedrige Wagenund Gesindehaus zu, das in L-Form an die Rückfront des majestätischen Herrenhauses angebaut war. Hier war das männliche Personal untergebracht. Es war ein Glück, dass sie ihren Bruder nicht im Untergeschoss oder im Dachgeschoss des Herrenhauses suchen musste, wo die weiblichen Dienstboten schliefen. Obwohl ihr die Räumlichkeiten dort vertraut waren, würde sie es nur ungern betreten.
Was dachte der neue Earl sich nur dabei, Joshua noch immer von seinen Lieben fern zu halten? Die Brigg lag angeblich bereits seit zwei Tagen an der Küste vor Anker. Emily hatte erst jetzt davon gehört, sonst wäre sie schon früher gekommen. Und warum war das Schiff nicht in den Hafen eingelaufen?
Ihr Bruder war erst dreizehn Jahre alt. Und nach seinen sechs Monaten auf See war er vor Heimweh gewiss schon ganz krank.
Sosehr sie damals auch protestiert hatte, ihr Vater hatte Joshua erlaubt, als Schiffsjunge bei Captain Roland für die unselige Reise nach Indien anzuheuern, die unternommen werden musste, um Nicholas vom Tod seines Vaters in Kenntnis zu setzen. Und um ihn so bald wie möglich nach England zu bringen, damit er als neuer Lord Kendale dessen Stelle einnehmen konnte.
Lord Kendale . Natürlich hatte Nicholas auf einen Titel immer Anspruch gehabt, weil er ja der Sohn des Earl of Kendale war. Nun war er selbst Earl und hatte die damit verbundenen Würden geerbt. Sie durfte auf keinen Fall vergessen, ihn Lord Kendale zu nennen, wenn sie ihn je wieder sehen sollte.
Doch Earl oder nicht: Er hatte kein Recht, ihren kleinen Bruder über dessen Dienstzeit hinaus hier festzuhalten. Joshuas Platz war daheim, bei ihr und ihrem Vater, der seinen Sohn täglich mehr vermisste. Das würde sie Lord Kendale zu verstehen geben. Warum nur hatte er Wachen an den Toren postiert? Sie hatten sie brüsk angewiesen zu gehen, ohne ihr Auskunft geben zu wollen.
Emily raffte ihre bodenlangen Röcke und wich geschickt einigen Pfützen aus, während sie auf die Tür des Gesindehauses gleich neben der Remise zusteuerte.
Außer den Torwächtern, das fiel ihr auf, hatte sie noch keinen einzigen Bediensteten gesehen. Im Dorf hatte es geheißen, das Personal sei nach Nicholas' Ankunft weggeschickt worden.
Im Dorf hatte ihn noch niemand zu Gesicht bekommen. Dass er sich derart abschottete, war seltsam. Angesichts der Animosität, die zwischen Vater und Sohn geherrscht hatte, war es unwahrscheinlich, dass er sich aus übermäßiger Trauer über das Ableben seines Vaters von den Menschen in Bournesea fern hielt. Vielleicht hatte Nicholas Schuldgefühle, was Emily in gewisser Hinsicht erleichterte.
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