Montedidio: Roman (German Edition)
etwas, was die alten Arbeiter eigentlich nicht tun. Er setzt sich hin mit der Zeitung auf den Knien, die Glühbirne hat zwanzig Watt, er strengt sich an, kneift die Augen zusammen.
D ANN GEHEN WIR mit einem Gruß hinaus, er antwortet nicht, liest und bewegt die Lippen, um den Worten zu folgen. Maria und ich können besser lesen als er, und das ist ungerecht. Nur weil wir in aller Bequemlichkeit lernen durften, wissen wir zuletzt Gekommenen mehr als ein erwachsener Mann, der sich sein ganzes Leben lang mit der Kraft seiner Arme Anerkennung erworben hat und es uns nie am Nötigsten hat fehlen lassen und seine Frau immer mit Respekt behandelt hat. Ich schließe die Haustür, während ich hinter Maria hinausgehe, und mir wird klar, dass ich stolz bin auf Vater, der, um lesen zu können, die Lippen aufeinanderpressen und in fortgeschrittenem Alter ein bisschen Bildung zusammenraffen muss. Marì, wir müssen die beste Pizza von Neapel kaufen. »Für weniger gehen wir nicht mal aus dem Haus, mindestens die beste von Neapel, und dann sehen wir, ob es auch die beste der Welt ist.« Maria, sage ich, du bedeutest mir was. »Das sage ich, du sagst etwas anderes«, entgegnet sie und lässt mich schon wieder wie einen Blöden zurück.
G IGINO, DAS E KEL, MACHT P IZZA für ganz Neapel, vor dem Ofen hat sich eine Warteschlange gebildet. Es ist kalt, er steht mit nackten Armen da und klopft den Teig mürbe, schlägt auf ihn ein und dreht ihn in der Luft, zwischendurch wendet er sich mechanisch zum Ofen hin und wirbelt mit der Schaufel zehn Pizzen in Sekundenschnelle um. Um die Leute anzulocken, ruft er: »Das sind Pizzen, ’e sott ’o Vesuvio, nc’è scurruta ’a lava ’e ll’uoglio «, damit will er sagen, dass er so viel Öl, uoglio , drauftut, wie Lava vom Vesuv herabfließt. So fällt es den Leuten leichter zu warten, und mit Don Giginos Übertreibungen kommt der Appetit. Man nennt ihn das Ekel, weil er einen Bart hat und manch einer später ein schwarzes Barthaar in der Pizza findet. Er trägt einen Bart, weil er ein zerschnittenes Gesicht hat. Ich stelle mich abseits auf den Bürgersteig, Maria geht zur Theke und verschafft sich laut Gehör: »Don Gigì, drei von Euren Margherite, wir müssen uns nämlich wieder aufpeppeln!«, ruft sie ihm mit ihrer angriffslustigen und koketten Art aus der Menge heraus zu. »Nenne’, i’ m’arricreo quanno te veco« , Mädchen, es peppelt mich auf, wenn ich dich seh«, antwortet Don Gigino an der Theke, schwarz der Bart, die Augen, und Haare gründlicher mit weißem Mehl bestäubt als eine panierte Sardelle. Und er bedient uns vor den anderen, überreicht uns drei Margherite, eine über der anderen mit Butterbrotpapier dazwischen, und ruft laut, damit alle ihn hören können: »Lasst das schönste Mädchen von Montedidio durch!«, und Maria bahnt sich selbst einen Weg durch die Menge und nimmt die Pizzen aus Don Giginos Händen, der ihr sogar sagt, sie könne ein anderes Mal bezahlen: » Cheste m’e ppave ll’anno che vene , die bezahlst du im neuen Jahr.« Kerzengerade und stolz über die Ehre, die das bedeutet, kommt sie zu mir, hakt sich bei mir ein, und wir gehen hinauf nach Montedidio, während uns alle nachblicken. Wie wichtig es in dieser Stadt ist, zu zweit zu sein, Mann und Frau. Wer allein ist, ist weniger als einer.
A UF DER S TRAßE ZÜNDEN SIE schon Knallkörper, die Leute laufen eilig nach Hause, um sich in ihr Fest einzuschließen. Die eingewickelten Pizzen dampfen in Marias Hand, ihre Schritte machen ein Geräusch von Holz, ich entdecke, dass sie Schuhe mit Absätzen trägt. Die Sache ist die, dass ich sehe, dass Maria größer geworden ist, und nicht auf die Schuhe gucke, ich denke sofort, dass sie von einem Tag zum anderen schnell gewachsen ist. Jetzt sehe ich die Absätze, aber ich weiß, dass sie sowieso größer ist als ich, auch ohne Absätze. Die Geschwindigkeit trägt uns, wir sind hoch oben auf dem Dach von Montedidio angekommen, wo wir den Sternen direkt ins Gesicht blicken. Auch Don Gigino hat es gemerkt, und er hat uns vor allen anderen Kunden bedient, weil er sieht, dass wir laufen, wachsen und laufen. Maria ist größer, für den, der sie ansieht, hat sie mit einem Mal ihre Mädchenfigur verloren und ist zur Frau geworden. Ich sage nichts, was sie tut, ist immer richtig getan.
Z U H AUSE IST P APA mit der Zeitung auf den Knien eingeschlafen. Ich nehme sie ihm weg, er wacht auf, blickt benommen um sich, streicht sich mit der Hand übers Gesicht, um
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