Mord auf der Leviathan
Geschichte. Mehrmalige Versuche der Direktion des Louvre, dem Lord einzelne Exponate seiner vielfältigen Sammlung abzukaufen, stießen auf entrüstete Ablehnung. Der Verstorbene schätzte insbesondere die einzigartige goldene Statuette des Gottes Schiwa, die von Experten auf mindestens eine halbe Million Francs taxiert wird. Der Lord, der ein ängstlicher und argwöhnischer Mensch war, hatte große Furcht vor Dieben, und in der Schatzkammer standen Tag und Nacht zwei bewaffnete Wächter.
Wir wissen nicht, warum die Wächter ihren Posten verließen und ins Parterre hinuntergingen. Wir wissen nicht, über welche unbekannte Macht der Täter verfügte, um alle Bewohner des Hauses seinem Willen gefügig zu machen, ohne daß sie den geringsten Widerstand leisteten (die Polizei nimmt an, daß ein schnell wirkendes Gift eingesetzt wurde). Klar ist nur, daß der Verbrecher den Hausherrn nicht in der Villa vermutet hatte. Damit ist wohl die bestialische Grausamkeit zu erklären, mit welcher der angesehene Sammler getötet wurde. Der Mörder dürfte den Tatort in Panik verlassen haben. Jedenfalls nahm er nur die Statuette und eines der bunten indischen Tücher mit, die in derselben Vitrine ausgestellt waren. Das Tuch wurde sicherlich benötigt, um den goldenen Schiwa einzuwickeln, da sonst der Glanz der Statuette die Aufmerksamkeit eines späten Passanten hätte erregen können. Die übrigen Kostbarkeiten, an denen die Sammlung reich ist, blieben unberührt. Wie wir ermitteln konnten, war Lord Littleby gestern nur zufällig zu Hause, durch eine verhängnisvolle Verquickung von Umständen. Er wollte eigentlich ins Kurbad fahren, war aber wegen eines plötzlichen Podagraanfalls daheim geblieben – zu seinem Unglück.
Der Zynismus des Massenmords in der Rue de Grenelle ist bestürzend. Welche Mißachtung von Menschenleben! Welch ungeheuerliche Grausamkeit! Und wofür? Für einen goldenen Götzen, der jetzt gar nicht mehr verkauft werden kann! Sollte die Schiwafigur jedoch eingeschmolzen werden, so wird sie sich in einen gewöhnlichen Zweikilogoldbarren verwandeln. Zweihundert Gramm des gelben Metalls – das ist der Wert, den der Verbrecher jedem der zehn vernichteten Menschenleben beimaß. O tempora, o mores! rufen wir mit Cicero.
Es gibt jedoch Grund zu der Annahme, daß die unerhörte Untat nicht ungestraft bleiben wird. Der erfahrenste Ermittler der Pariser Präfektur, Gustave Coche, der mit der Untersuchung betraut ist, teilte uns im Vertrauen mit, daß die Polizei über ein wichtiges Corpus delicti verfügt. Der Kommissar ist sich absolut sicher, daß der Schuldige bald hinter Gittern sitzen wird. Auf unsere Frage, ob das Verbrechen von einem Berufsräuber verübt wurde, lächelte Monsieur Coche verschmitzt in seinen grauen Schnauzbart und antwortete geheimnisvoll: »Nein, der Faden führt in die gute Gesellschaft.« Mehr konnte meine Wenigkeit nicht aus ihm herausholen.
G. du Roy
WELCH EIN FANG!
Der goldene Schiwa ist gefunden! Das »Verbrechen des Jahrhunderts« in der Rue de Grenelle – das Werk eines Irren?
Gestern, am 17. März, gegen achtzehn Uhr angelte der 13jährige Pierre B. bei der Pont des Invalides. Sein Angelhaken verhedderte sich am Grund, so daß der Junge ins kalte Wasser steigen mußte. (»Ich wär ja schön blöd, den englischen Haken unten zu lassen«, sagte der junge Angler zu unserem Reporter.) Pierres Mut wurde belohnt: Der Haken war nicht an einem gewöhnlichen Wurzelknorren hängengeblieben, sondern an einem gewichtigen Gegenstand, der zur Hälfte im Schlamm versunken war. Aus dem Wasser gezogen, erstrahlte der Gegenstand in überirdischem Glanz und blendete den verwunderten Fischer. Pierres Vater, Sergeant im Ruhestand und Veteran von Sedan, erriet sofort, daß es der berühmte goldene Schiwa war, um dessentwillen vorgestern zehn Menschen ermordet worden waren, und brachte die Statuette auf die Präfektur.
Wie ist das zu verstehen? Der Verbrecher, der vor der kaltblütigen und raffinierten Ermordung so vieler Menschen nicht zurückschreckte, will die Beute seiner ungeheuerlichen Untat nicht behalten! Die Untersuchung steckt in einer Sackgasse. Viele neigen wohl zu der Annahme, daß in dem Mörder verspätet das Gewissen erwachte und er voller Entsetzen die goldene Götzenfigur ins Wasser warf. Manche glauben sogar, daß sich der Verbrecher in der Nähe ertränkte. Die Polizei, nicht minder romantisch, findet in der Inkonsequenz der Handlungen des Täters deutliche Anzeichen
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