Mord unter den Linden (German Edition)
hob den Kopf
und lauschte angestrengt. Die Stufen knarrten, aber nicht so laut wie beim
ersten Mal. Das konnte nur bedeuten, dass weniger Gewicht auf dem Holz lastete,
dass die Person also leichter war. Vielleicht stieg ein Kind oder – oh Gott! –
eine Frau herab. Seine Mundwinkel zuckten. »Wer ist das?«
»Wir unterhalten
uns später, du Menschenfreund«, erwiderte Marcel und steckte den Dolch weg.
»Ich kann Geld
beschaffen! Viel Geld – hörst du? Wenn du mich gehen lässt, kannst du es
haben.«
Plötzlich sah ihn
der junge Franzose direkt an und sagte: »Ich hab versucht, es ihr auszureden.
Eine ganze Stunde lang, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
»Wovon zum Teufel
sprichst du?«
»Ich sagte, dass
sich eine große Seele nicht von niederen Gefühlen beherrschen lassen darf. Ich
sagte, dass man im Krieg Regeln einhalten muss. Wenn es nach mir gegangen wäre,
hätten wir ein Standgericht abgehalten und dich dann wie einen tollwütigen Hund
abgeknallt, aber sie …«
In diesem Moment
humpelte eine junge Frau herein. Unter einer Arbeitsschürze trug sie ein
schlichtes blaues Wollkleid. Das blonde Haar reichte ihr bis zum Gesäß. Ihr
Gesicht ließ eine stolze Schönheit erahnen, aber die Züge waren kaum noch zu
erkennen. Ihre Augen waren zugeschwollen. Auf ihren Wangen prangten
Blutergüsse. Die Lippen waren aufgeplatzt, und der Hals wies Würgemale auf.
Er kannte die
Frau. Zum ersten Mal hatte er sie auf dem Gutshof von Monsieur Wegener gesehen,
wo seine Kompanie nach Waffen gesucht hatte. Als sie sich entfernt hatte, hatte
sie sich von einem Stallburschen begleiten lassen, um sich vor den
Zudringlichkeiten der deutschen Soldaten zu schützen. Majestätisch war sie die
morastige Dorfstraße hinunterstolziert und am Ortsausgang in einen Feldweg
abgebogen, wo sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.
Den ganzen Tag
hatte er versucht, ihren aufreizenden Anblick zu vergessen, aber es war ihm
nicht gelungen. Wann immer er konnte, hatte er sich davongestohlen. Er hatte
sich an Baumstämmen gerieben und sich vorgestellt, wie er sie unterwarf, wie er
ihr den Hochmut austrieb. Er hatte wieder und wieder seine Hand in die Hose
gesteckt, aber der Druck hatte nicht nachgelassen, er war nur noch stärker
geworden.
Am Abend hatte er
es nicht mehr ausgehalten und hatte sich unerlaubt von der Kompanie entfernt.
Über den Feldweg war er zu einem Gutshof gelangt und hatte sich auf die Lauer
gelegt. Als eine Gestalt nach draußen getreten war, hatte er sofort erkannt,
dass sie es war. Wie ein wildes Tier hatte er sie angefallen und genommen. Vor Raserei
war er blind und taub gewesen.
Auf einmal hatte
ihn etwas hart am Kopf getroffen, und er hatte das Bewusstsein verloren. Erst
in diesem Verlies war er wieder aufgewacht.
»Komm bloß nicht
näher, du Hure«, sagte er jetzt und wandte sich an Marcel. »Sag ihr, dass sie
verschwinden soll.«
»Das kann ich mir
nicht ansehen«, murmelte der junge Franzose und verließ das Gewölbe.
Jetzt war er mit
der Frau allein. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und entblößten die
abgebrochenen Schneidezähne. In ihrer Hand hielt sie eine seltsam geformte
Zange. Sie bestand aus zwei langen Eisenstangen, die sich in der Mitte kreuzten
und in zwei Scheiben mündeten. Und plötzlich begriff er, was sie vorhatte. Sie
wollte es ihm heimzahlen. Sie wollte ihm etwas antun, das so grausam war, dass
es kaum mit Worten auszudrücken war. Kalter Schweiß rann zwischen seinen
Schulterblättern hinab. In was für einen Alptraum war er da nur geraten?
»Marcel!«, schrie
er. »Komm zurück! Das verstößt gegen jede … MARCEL!«
Zwanzig Jahre später
Im Club von Berlin
Das Dienstmädchen
bat ihn, sich einen Moment zu gedulden, und verließ den kleinen Salon. Dr. Otto
Sanftleben verschränkte die Hände auf dem Rücken und biss sich auf die Unterlippe.
Seit über sechs Jahren hatte er keinen Vortrag mehr gehalten. Zwar hatte er
sich mit Akribie vorbereitet, aber alle Übungen konnten die Praxis nicht
ersetzen. Er wusste genau, wie viel vom Gelingen dieses Abends abhing, und er
hoffte sehr, dass er sich schnell zurechtfinden würde.
Um sich etwas
abzulenken, nahm er die Einrichtung in Augenschein. Von der Decke hingen große
Kronleuchter, die ein helles, strahlendes Licht spendeten. Die Sofas waren mit
den beliebten Ripsstoffen bezogen. Auf dem Parkettfußboden lagen großgeblümte
Teppiche. Und an den Wänden hingen Ölgemälde in goldenen Barockrahmen.
Endlich
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