Mord unter den Linden (German Edition)
ick det Zeug besorge.« Er lächelte unschuldig.
»Is ja ‘n Haufen Kohle. Die wollte ick mir nich entgehen lassen, vastehnse?«
»Klar.« Der Mann nickte und steckte die Makarow ins Holster unter
seinem pastellfarbenen Leinensakko. Sicher ein westliches Fabrikat. Dazu trug
der Mann eine 501er Levi’s sowie ein Jeanshemd, beides in Schwarz, was Boelter
zu der Überlegung veranlasste, ob er nun einem Stasimann oder einem
Bürgerrechtler gegenüberstand. Genau war das nicht auszumachen, so ein Typ
hätte sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite des runden Tisches
sitzen können. Allein aus der Makarow und der Tatsache, allzu rasch auf den
Boden gelegt worden zu sein, schloss Boelter, dass er es wohl wirklich mit
einem Mitarbeiter der Stasi-Nasi zu tun hatte.
Der funkelte ihn durch seine randlose Brille an. »Sie haben
gedient?«
»Ja«, Boelter strahlte. Immerhin hatte der Mann gemerkt, dass er ein
Kämpfer war. »Drei Jahre Unteroffiziersausbildung in Prora.«
»Bei den Fallschirmjägern!« Der Stasimann machte eine anerkennende
Miene. »Gut!«
Boelter nickte stolz. Das waren noch Zeiten gewesen! Als
Fallschirmjäger war man ein harter Kerl mit ganz besonderer Ausbildung. Nur die
Fittesten kamen nach Prora, die Sportlichsten mit den stärksten Nerven.
Und Boelter gehörte dazu. Mit knapp zwanzig Jahren schon hatten sie
ihn in eine Propellermaschine gesetzt und ins Nirgendwo geflogen. Irgendwann in
der Nacht musste er abspringen, über unbekanntem Gebiet hinein in die
Dunkelheit. Auftrag war es, sich binnen acht Tagen zurück zur Truppe
durchzuschlagen, egal wie – man durfte sich nur nicht erwischen lassen und
musste unerkannt bleiben. Als es dämmerte, fand sich Boelter in der Nähe eines
Dorfes wieder, und als er das erste Straßenschild sah, wusste er, dass sie ihn
irgendwo über Polen abgesetzt hatten. Er stahl zwei Hühner, eine Flasche Wodka
und einen Straßenatlas und schlug sich gut sechshundert Kilometer zur deutschen
Grenze durch. Er durchschwamm die Oder, »lieh« sich einen Wagen und war nach
fünf Tagen zurück in Prora. Fünf Tage, die ihn zum Mann gemacht hatten, zu
einem Kerl, der überlebensfähig war – komme, was wolle. Boelter straffte sich
und sah sein Gegenüber an.
»Und wat passiert jetzt mit mir?«
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« Der Stasimann sah sich
nachdenklich die Aktenordner durch. Dann klappte er den gelblichbeigen Deckel
eines Apparates der Marke SECURA auf, der vor den Regalen stand, und legte die Akten routiniert und zügig Seite
für Seite auf eine dunkle Glasplatte, die immer wieder aufblitzte. Gleichzeitig
spuckte der Apparat seitlich bedruckte Blätter aus.
Ein Vervielfältigungsapparat, staunte Boelter, der Kerl macht sich
Abzüge von den Akten …
»Welche Ordner brauchen Sie noch?«, erkundigte sich der Stasimann
ruhig, während er die Ordner weiterfotokopierte.
»Wat?« Boelter verstand nicht.
»Sie sind doch nicht nur wegen dieses einen operativen Vorgangs
hergekommen?«
»Doch«, versicherte Boelter verwirrt, »Arndt, Jan Fridolin,
Jahrgänge 60 bis 61, det war der Auftrag.«
»Ehrlich?« Der Stasimann sah ihn skeptisch an und lächelte dann wie
ein freundlicher Dienstleister. »Sie brauchen es nur zu sagen, wenn Sie noch
weitere Akten suchen.«
»N-nein«, stammelte Boelter, »nur diese beiden Ordner, bitte.«
»Wie Sie wollen.« Der Stasimann fotokopierte weiter. »Dann muss
Ihrem Auftraggeber ja einiges an diesen Vorgängen liegen, nicht wahr? Wenn er
Ihnen zweitausend Westmark dafür zahlt?«
»V-vermutlich.« Boelter zuckte mit den Schultern und sah zu, wie der
Stapel Kopien weiter anwuchs. »Wie jesagt, ick weeß nicht, wer dahinter
steckt.«
»Schon gut, ich kann’s mir denken.« Der Stasimann sortierte die
Originalakten wieder in die Ordner ein und gab sie Boelter zurück. »Hier! Und
jetzt verschwinden Sie damit. Kein Wort von den Kopien, klar?«
»Sie …«, Boelter starrte den Mann verblüfft an. »Sie lassen mich
gehen?«
»Kein Wort von den Kopien«, wiederholte der Stasimann eindringlich,
»versprechen Sie mir das?«
»P-pionierehrenwort«, versicherte Boelter und machte, dass er
fortkam.
Etwa dreieinhalb Stunden später stand er fröstelnd auf dem zugigen
Alexanderplatz unter der Weltzeituhr. In Moskau war es schon bald Mitternacht,
in New York dagegen erst halb vier am Nachmittag.
Punkt einundzwanzig Uhr dreißig trat der geheimnisvolle Mann mit dem
Borsalinohut auf Boelter zu. Und noch immer trug er eine
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