Machtlos
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Teil I
Artikel 11, Paragraph 1
der Charta der Menschenrechte
der Vereinten Nationen
Jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.
L eonie und Sophie stritten auf der Rückbank des Autos auf dem Weg in die Schule. Hätte Valerie geahnt, was sie erwartete, hätte sie vielleicht ihren Stimmen anders gelauscht, hätte versucht, den Streit zu schlichten, und über das schmale Rechteck des Rückspiegels den Blick in die Gesichter ihrer Töchter gesucht. Ihnen ein Lächeln geschenkt. Stattdessen starrte sie nur auf die Straße vor sich, auf den dichten Verkehr, der sich um diese Uhrzeit durch die Straßen zwängte, und war in Gedanken längst in London bei ihrer Besprechung, zu der sie am späten Vormittag erwartet wurde. Ihr Flug ging in einer knappen Stunde. Sie hatte nur Handgepäck: ihre Unterlagen und ihren Laptop für die Präsentation.
»Warum fährst du uns heute zur Schule, Mami? Das machst du doch sonst nie«, riss Leonie sie aus ihren Gedanken.
»Ich muss zum Flughafen. Die Schule liegt auf dem Weg«, erwiderte Valerie kurz angebunden. »Aber Janine holt euch heute Nachmittag wie immer ab und geht dann gleich mit euch zum Zahnarzt.« Sie ließ den Wagen vor dem Schulgelände ausrollen, wandte sich zu ihren Töchtern um und sah sie streng an. »Lasst sie bitte nicht wieder warten.«
Sie starrte den blonden Schöpfen ihrer Mädchen nach, bis sie im Gewühl verschwunden waren, und fragte sich, ob sie ihnen genug Geld mitgegeben hatte. Hinter Valerie hupte es. Sie gab den Parkplatz frei, schlug den Weg zum Flughafen ein und ging noch einmal im Kopf die Liste der Dinge durch, die sie heute brauchen würde: Geldbeutel, Papiere, Handy, die Unterlagen waren vollständig, das Netzkabel für den Laptop in der Tasche. Alles, was sie sonst eventuell brauchte, konnte sie unterwegs kaufen. Sie stoppte den Wagen vor einer roten Ampel und schloss für einen Moment die Augen. In vierzehn Stunden würde sie zurück sein. Marc würde auf sie warten. Sie hatte den Rotwein schon rausgestellt, den sie gemeinsam trinken wollten. Sie lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken daran und stellte sich vor, wie Marcs dunkle Augen auf ihr ruhten und die Wärme seines Atems über ihre Haut strich, wenn er sich zu ihr beugte und sie küsste. Die Ampel schaltete auf Grün. Ihr Fuß verharrte einen Augenblick unschlüssig über dem Gaspedal, dann drückte sie es entschlossen herunter.
Am Flughafen tauchte sie ein in die morgendliche Hektik eines ganz normalen Werktages. Geschäftsreisende hasteten an Pauschaltouristen vorbei, die große Koffertrolleys mühsam hinter sich herzogen und mit suchendem Blick aus der Drehtür in das Terminal traten. In der Mitte der großen Halle erinnerte sie der riesige Weihnachtsbaum, dass am Wochenende schon der zweite Advent sein würde. Vor den Check-in-Schaltern von British Airways warteten lange Schlangen. Valerie war froh, am Vorabend bereits per Internet eingecheckt zu haben.
Auf dem Weg zu ihrem Gate machte sie noch einen Stopp an einem Geldautomaten. Sie schob ihre EC -Karte in den Schlitz, gab ihre Pin-Nummer ein und den Betrag, den sie sich auszahlen lassen wollte, doch der Automat brach die Transaktion ab. »Auszahlung zurzeit nicht möglich« erschien auf dem Display. Irritiert starrte sie darauf, bevor sie ihre Karte wieder entgegennahm. Ein weiterer Automat war nicht in Sichtweite. Valerie warf einen Blick auf die Uhr an der Stirnseite des Terminals. Noch vierzig Minuten bis zum Abflug. In London würde sie mit ihrer Kreditkarte zahlen müssen. Sie zog den Ausdruck ihrer Bordkarte aus der Tasche, und die Dame am Schalter winkte sie durch. An der Sicherheitskontrolle musste sie warten. Der Mann vor ihr musste nicht nur sein Jackett, sondern auch Schuhe und Gürtel ausziehen. Valerie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihre Tasche. Sie selbst konnte die Kontrolle unbehelligt passieren.
Ihre hochhackigen Schuhe klapperten auf dem glatten Boden, als sie an den hell erleuchteten Duty-free-Shops vorbeieilte. Große goldene Pakete lagen in den Schaufenstern, verziert mit leuchtend roten Schleifen. Vor einem Laden stand ein riesiger strombetriebener Weihnachtsmann neben einem ausgestopften Rentier und winkte allen Passanten zu. In einem der Fenster konnte sie einen
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