Moskauer Diva
Seufzer griff Erast Petrowitsch zum Telefon. »Fandorin. Ich höre.«
Ach, wie unschön!
»Erast Petrowitsch, um meinetwillen, um unserer Freundschaft willen, um der Barmherzigkeit willen, zu guter Letzt um meines toten Mannes willen, weisen Sie mich nicht ab!«, sagte eine klangvolle, Fandorin zweifellos bekannte, wenn auch von Erregung entstellte Frauenstimme. »Sie sind ein nobler und hilfsbereiter Mensch, ich weiß, Sie werden mich nicht abweisen!«
»Er ist also gestorben …« Fandorin senkte den Kopf, obgleich die Witwe das nicht sehen konnte, und sagte mit aufrichtigem Gefühl: »Nehmen Sie mein t-tiefempfundenes Beileid entgegen. Das ist nicht nur Ihr persönlicher Kummer, sondern ein gewaltiger Verlust für ganz Russland. Sie sind ein starker Mensch. Ich weiß, Sie werden nicht den Kopf verlieren. Und ich meinerseits werde selbstverständlich alles tun, was ich kann.«
Nach einer kurzen Pause entgegnete die Dame leicht verwirrt:
»Ich danke Ihnen, aber ich habe mich bereits daran gewöhnt. Die Zeit heilt alle Wunden …«
»Die Zeit?«
Erast Petrowitsch starrte verwundert auf das Telefon.
»Nun ja. Immerhin ist Anton Pawlowitsch schon seit sieben Jahren tot … Hier ist Olga Leonardowna Knipper-Tschechowa. Ich habe Sie wohl geweckt?«
Ach, wie unschön! Fandorin warf einen wütenden Blick auf den unschuldigen Masa und errötete. Kein Wunder, dass ihm die Stimme bekannt vorgekommen war. Mit der Witwe des Schriftstellers verband ihn eine langjährige freundschaftliche Beziehung – sie waren beide Mitglieder der Kommission zur Verwaltung des Tschechowschen Erbes.
»Um Himmels w-willen, v-verzeihen Sie!«, rief er, heftiger stotternd als üblich. »Ich hielt Sie für … Unwichtig …«
Durch das dumme, im Grunde komische Missverständnis befandsich Fandorin bei diesem Gespräch von Anfang an in der Position des Schuldigen, der sich rechtfertigte. Anderenfalls hätte er auf die Bitte der Schauspielerin vermutlich mit einer höflichen Absage reagiert, und sein ganzes weiteres Leben wäre anders verlaufen.
Doch Erast Petrowitsch war verlegen, und das Wort eines Ehrenmannes war kein Spatz, es ließ sich nicht zurückholen.
»Werden Sie wirklich alles für mich tun, was Sie können? Ich nehme Sie beim Wort«, sagte Olga, bereits weniger erregt. »Da ich Sie als Ritter und Ehrenmann kenne, bin ich sicher, dass die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, Sie nicht gleichgültig lassen wird.«
Übrigens wäre es Fandorin auch ohne den konfusen Beginn dieses Gesprächs nicht leichtgefallen, dieser Frau ihre Bitte abzuschlagen.
In der Gesellschaft wurde das Verhalten von Tschechows Witwe missbilligt. Es galt als guter Ton, sie zu verurteilen, weil sie es vorgezogen hatte, auf der Bühne zu glänzen und die Zeit fröhlich mit ihren Freunden vom Künstlertheater zu verbringen, statt den todkranken Schriftsteller in seiner traurigen Einsamkeit in Jalta zu pflegen. Sie hatte ihn nicht geliebt, nein, sie hatte ihn nicht geliebt! Sie hatte den Sterbenden aus kalter Berechnung geheiratet, um an Tschechows Ruhm teilzuhaben, zugleich ihren eigenen zu mehren und sich überdies für ihre Bühnenkarriere den berühmten Namen zu sichern – so das allgemeine Urteil.
Erast Petrowitsch empörte diese Ungerechtigkeit. Tschechow war ein reifer und kluger Mann gewesen. Er wusste, dass er nicht irgendeine Frau heiratete, sondern eine große Schauspielerin. Olga Leonardowna war bereit gewesen, die Bühne aufzugeben, um ständig bei ihm zu sein, aber was taugte ein Mann, der dieses Opfer annahm? Lieben hieß, dem Geliebten Glück zu wünschen. Ohne Großmut war Liebe keinen Groschen wert. Dass die Frau ihrem Mann den Sieg in diesem Großmut-Wettbewerb überlassen hatte, war richtig. Und unmittelbar vor seinem Tod war sie bei ihm gewesen und hatte ihm das Sterben erleichtert. Sie hatte erzählt, dass eram letzten Abend viel gescherzt habe und sie beide herzlich gelacht hätten. Was konnte man sich mehr wünschen? Ein guter Tod. Niemand hatte das Recht, diese Frau zu verurteilen.
Diese Gedanken gingen Erast Petrowitsch wieder einmal durch den Kopf, während er dem stockenden, verworrenen Bericht der Schauspielerin lauschte. Sie sprach von einer gewissen Elisa, einer Freundin, offenbar auch Schauspielerin. Dieser Elisa war etwas passiert, wodurch »die Ärmste in ständiger Todesangst schwebt«.
»Ich bitte um Verzeihung«, schaltete sich Erast Petrowitsch ein, als die Anruferin innehielt, um aufzuschluchzen. »Ich
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