Kommissar Joakim Hill - 01 - Die zärtliche Zeugin
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Merkwürdig war, wie unberührt alles zu sein schien.
Niemand hatte etwas zerschlagen, Waren aus den Regalen gerissen oder auch nur auf den Boden geschissen.
Es sah aus wie in jeder anderen Tankstelle des Ortes, abends an einem milden Frühlingstag.
Abgesehen davon, dass der Tankwart tot vor dem Kühlschrank mit den Bierdosen lag.
Kriminalkommissar Joakim Hill von der Polizei in Helsingborg konnte sich einfach nicht an den Tod gewöhnen. Eine abgrundtiefe Trauer ergriff jedes Mal von ihm Besitz, wenn er sich mit ihm konfrontiert sah.
Aber das ließ sich kaum vermeiden.
Jedenfalls nicht in seinem Beruf.
Die letzten Exemplare einer Abendzeitung lagen immer noch in ihrem Gestell. Er registrierte, dass das Aftonbladet im Gegensatz zum Expressen ausverkauft war.
Immer wieder erstaunte es ihn, wie viele lächerliche Kleinigkeiten ihm an den Schauplätzen der Morde auffielen.
Als sei das Opfer nebensächlich.
Und als sei das Blut, das über den schwarz gesprenkelten hellen Steinfußboden floss, bedeutungslos, belanglos.
Am Rand seines Gesichtsfelds bemerkte er einen umgekippten Ständer für Rubbellose.
Das Erste, wovon er sich überzeugte, war, ob die Kasse voll war: unberührt wie die Unschuld selbst. Nein, das hier war kein gewöhnlicher Raubüberfall.
Knut Sahlman, Hills Kollege bei diesem Einsatz, erkundigte sich gerade bei den Streifenpolizisten, die an den Zapfsäulen warteten, nach den Details. Auch die Person, die das Pech gehabt hatte, den Ermordeten zu finden, wartete dort.
Hill sah durch die funkelnde Panoramascheibe, dass Sahlman ein paar hastige Worte mit ihr wechselte.
Sahlman war in den Augen von Hill zwar ein ganz brauchbarer Polizeibeamter, aber viel zu adrett. Er verwendete außerordentliche Sorgfalt auf seine Kleidung; nie wies seine Erscheinung irgendwas auf, was man nachlässig oder uninspiriert hätte nennen können. Der Mantel aus Mohair mit auffällig breitem Revers war kaum für diese Art von Tätigkeit geeignet. Das galt auch für die dunkelblauen italienischen Wildlederschuhe. Manchmal fragte sich Hill, warum Sahlman überhaupt Polizist geworden war.
Hill war sein genaues Gegenteil. Er kümmerte sich nie auch nur im Geringsten darum, ob Farben zueinander passten, ob es sich um Qualität handelte oder was die Mode gerade vorschrieb. Seine Kleidung musste einfach nur praktisch sein.
Als Sahlman nach einer Weile in den Shop der Tankstelle kam, ging er vorsichtig um den Toten herum, um seine Schuhe nicht mit dem Blut zu beflecken, das in Rinnsalen bis zur Kühltruhe mit dem Speiseeis floss.
»Was glaubst du?«, fragte er Hill. »Raubüberfall?«
»Eher nicht.«
»Der Schuss könnte versehentlich losgegangen sein.«
»Recht unwahrscheinlich.«
»Ach? Wieso?«, wollte Sahlman wissen und klopfte sich verärgert den Puderzucker der offen verkauften Süßigkeiten von seinem teuren Mantel.
»Meine Güte! Schau ihn dir doch an!«
Ratlos sah Sahlman Hill an, senkte dann aber den Blick zu dem Toten auf dem Fußboden. Der Tankstellenwart lag mit weit gespreizten Beinen da. Seine Hose war nass, wie sie das zu sein pflegte, wenn die letzten Zuckungen den Sterbenden der Muskelkontrolle beraubten. Sein Hals war seltsam verdreht und stieß an die untere Gummileiste des Kühlschranks mit den Bierdosen. Das Blut sickerte immer noch aus dem stummen, geöffneten Mund. Es lief über das Kinn und sammelte sich in einem stetig größer werdenden Fleck auf der Hemdbrust.
Außerdem trug er eine dunkelblaue Augenbinde. Der Schuss, der ihn getötet hatte, war direkt in den Mund abgefeuert worden und hatte vermutlich eine ordentlich große Austrittswunde an der Schädelbasis hinterlassen.
Die Wand dahinter und ein großer Teil des Kühlschranks waren in einem Halbrund mit roten Spritzern übersät, die an eine schicke Reklamegrafik erinnerten.
Doch diese Spritzer waren von unheimlicher Echtheit.
»Shit!«
Sahlman war ein moderner Mensch. Er gehörte zur Szene, kannte ihre Sprache und markigen Aussprüche und wurde gelegentlich sogar in den Klatschspalten der Abendzeitungen erwähnt. Die meisten seiner weiblichen Eroberungen waren zwei Jahrzehnte jünger als er.
»Ja«, stimmte ihm Hill betrübt zu. Er hatte keine prägnantere Zustimmung in seinem Repertoire. »Hast du die Spurensicherung verständigt?«
»Klar, die rollen an.«
Natürlich. Sie waren nicht auf dem Weg – sie rollten an!
Bis dahin war es wichtig, dass sie sich so vorsichtig wie möglich bewegten und versuchten, sich jedes
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