Nacht der Dämonen
zurückgelassen worden waren – als Opfer für die Dämonen, die das Land in Knechtschaft hielten. Immer öfter hatten in diesem Jahr Opferungen stattgefunden und die jeweilige Zahl der Opfer war gewachsen.
Und nun fürchtete Tiamu, dass sie zu den nächsten gehören würde. Sie wollte nicht sterben, obgleich sie natürlich wusste, dass es Blasphemie war, sich gegen die Wünsche der Götter aufzulehnen. Vor allem wollte sie nicht auf eine so grässliche Weise den Tod finden. Ihre Seele würde als ein Spielzeug des Erdvolks zu nie endender Qual verurteilt sein.
Tiamu war noch so jung, erst fünfzehn Sommer zählte sie. Schon als Baby verwaist, hatte man sie als Zögling im Stadttempel aufgenommen und als wahre Gläubige großgezogen. Als Tempeljungfrau war sie in die Rituale des Glaubens und der Besänftigungsopfer eingeweiht worden: Mit den anderen jungen Mädchen hatte sie gelernt, ohne aufzubegehren, den sie unterrichtenden Priesterinnen zu gehorchen, die wiederum blind dem Hohenpriester Mophis und der Herrscherin der Stadt, Hefei, Folge leisteten. In ihrem jungen Leben hatte sie an Festtagen bei den heiligen Riten mitgewirkt, bei den Straßenparaden, und war zu Diensten sowohl im Tempel als auch in Hefeis Palast herangezogen worden. Genau wie den anderen Mädchen war ihr sehr wohl bewusst, dass ihr Leben, ihr. Geschick einzig und allein in den Händen Mophis’ lag. Wenn Mophis aus den Eingeweiden eines zeremoniell getöteten Vogels las, dass eine Jungfrau sterben musste, um das Erdvolk zu beschwichtigen, dann musste eben eine sterben – und das mochte durchaus Tiamu selbst oder eine ihrer Freundinnen sein.
Tiamu war eine intelligente junge Frau mit aufmerksamen Augen und forschendem Verstand. Jahre hatte sie darüber nachgedacht, weshalb man sie zur Tempeljungfrau gemacht hatte. Während die anderen offenbar nicht an Mophis’ Worten zweifelten, dass eine höhere Macht sie dazu bestimmt hatte, war Tiamu überzeugt, dass nur ein Zufall sie in den Tempel geführt hatte. Als Kind war sie nicht zur eigenen Wahl imstande gewesen, doch nun, als Erwachsene fragte sie sich oft, weshalb sie nicht einen anderen Weg für sich erwählen sollte.
So rebellierte ihr Instinkt, während ihr Herz heftig schlug bei dieser Verwegenheit und Unheiligkeit ihrer Gedanken.
An diesem Vormittag hatte sie erfahren, dass eine fremde Frau mit rotem Haar in die Stadt gekommen war. Sie hatte Unheil angerichtet, hatte Mophis’ Plan der Vorhersagungen und Zauber umgeworfen, und Hefei mit schlimmen Ahnungen erschreckt.
Eine Rothaarige war in der Stadt erschienen, und die sechs Opfer vom Abend zuvor waren als unbefriedigend erachtet worden. Tiamu sah das nicht als Zufall, sondern als Fügung an. Mit der hoffnungsvollen Logik einer gegen ihre Angst kämpfenden Frau folgerte Tiamu, dass ihr Leben nicht für den Tempel bestimmt war.
Als Tempeljungfrau hatte Tiamu Zugang zu den meisten Korridoren und Gemächern sowohl des Tempels als auch des Palastes. Ebenso erfuhr sie den Klatsch und die Gerüchte, die dort die Runde machten. Gewöhnlich achtete sie kaum darauf, ja verachtete dergleichen sogar, doch heute hatte sie aus dem nichts sagenden Geschwätz der anderen Tempelzierden ein paar für sie wichtige Tatsachen herausgehört.
»Die rothaarige Frau kämpfte wie ein Mann!« hatte Sithi am Morgen im Badebecken erfreut berichtet. »Sie hat gestern zehn Männer getötet …«
»Nein, zwölf!« warf eine andere ein.
»… aber Hefei hat sie gefangen genommen und Mophis sie entwaffnet und in den Kerker geworfen!«
»Und vor der Stadt sind zamorianische Soldaten!« wollte auch Athai ihr Wissen anbringen. »Ich habe gehört, sie sind hier, um Mophis im Kampf gegen das Erdvolk zu helfen, denn die Dämonen wollen die Stadt angreifen!«
So ging es weiter, mit Übertreibungen und Lügen, denn jede wollte die andere mit ihrem aufregenden Wissen übertreffen. Aber Tiamu hatte erfahren, was sie wissen wollte.
Nach dem täglichen Morgenbad folgten die Tempeljungfrauen dem vorgeschriebenen Tagesablauf: sie frühstückten in dem großen Speisesaal und beschäftigten sich danach mit Beten, Andacht, Meditationen und dem, was ihnen aufgetragen wurde. Erst am Nachmittag hatten sie Zeit für sich, um in den Gärten zu lustwandeln, Freundinnen zu besuchen, sich mit Spielen die Zeit zu vertreiben.
Oder die Tempelpriester zu besuchen, wenn sie es wollten.
Tiamu bemühte sich, die innere Aufregung nicht zu zeigen, und spazierte scheinbar gleichmütig zum
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