Nacht des Orakels
ernst geworden. «Wenn Sie eines Tages eine Geschichte in blaues Portugalbuch schreiben», sagte er «freut mich sehr. Füllt mein Herz mit Freude.»
Darauf wusste ich nichts zu antworten, aber ehe mir etwas einfiel, nahm er eine Visitenkarte aus seiner Hemdtasche und reichte sie mir über den Ladentisch. Oben stand in auffälliger Schrift PAPER PALACE. Darunter Adresse und Telefonnummer, und ganz unten rechts in der Ecke war als letzte Information zu lesen:
M. R. Chang, Inhaber.
«Ich danke Ihnen, Mr. Chang», sagte ich, die Karte studierend. Dann schob ich sie mir in die Tasche und zückte mein Portemonnaie, um zu bezahlen.
«Nicht Mister», sagte Chang und zeigte wieder sein breites Lächeln. «M. R. Das klingt mehr bedeutend. Mehr amerikanisch.»
Auch darauf wusste ich nichts zu erwidern. Ein paar Ideen, wofür die Initialen stehen könnten, huschten mir durch den Kopf, aber die behielt ich für mich. Mentale Ressourcen. Multiple Resultate. Mysteriöse Reputation. Manche Kommentare bleiben besser unausgesprochen, und ich sparte mir die Mühe, dem armen Mann meine dummen Scherze aufzudrängen. Nach kurzem verlegenem Schweigen reichte er mir die weiße Einkaufstüte und bedankte sich mit einer Verbeugung.
«Viel Glück mit Ihrem Laden», sagte ich.
«Sehr kleiner Palast», sagte er. «Nicht viel Auswahl.Aber Sie sagen, was Sie brauchen, und ich bestelle. Alles was Sie wollen.»
«Okay», sagte ich. «Abgemacht.»
Aber als ich mich zum Gehen wandte, flitzte Chang hinter dem Ladentisch hervor und verstellte mir den Weg zur Tür. Offenbar glaubte er, wir hätten soeben ein höchst bedeutsames Geschäft abgeschlossen, und wollte mir nun die Hand darauf geben. «Abgemacht», sagte er. «Gut für Sie, gut für mich. Okay?»
«Okay», wiederholte ich und ließ mir von ihm die Hand schütteln. Ich fand es absurd, aus so wenig so viel zu machen, aber es kostete mich ja nichts, da mitzuspielen. Außerdem wollte ich endlich weiterkommen, und je weniger ich sagte, desto eher konnte ich gehen.
«Sie fragen, ich finde. Alles, ich finde alles für Sie. M. R. Chang liefert alles.»
Darauf schwenkte er meinen Arm noch ein paar Mal, dann hielt er mir die Tür auf und nickte mir lächelnd zu, als ich mich an ihm vorbei in den rauen Septembertag hinausschob. 1
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Seit jenem Morgen sind zwanzig Jahre vergangen, und vieles von unserem Gespräch ist mir entfallen. Ich suche in meiner Erinnerung nach den fehlenden Dialogstücken, finde aber nur noch ein paar isolierte Fragmente, Einzelheiten, denen der ursprüngliche Kontext verloren gegangen ist. Sicher bin ich mir allerdings, dass ich ihm meinen Namen genannt habe. Und zwar unmittelbar nachdem er dahintergekommen war, dass ich Schriftsteller bin, denn ich höre ihn noch fragen, wie ich heiße – für den unwahrscheinlichen Fall, dass er auf eins meiner Bücher stieße. «Orr», hatte ich ihm geantwortet, also zunächst meinen Nachnamen genannt, «Sidney Orr.» Changs Englisch reichte aber nicht aus, meine Antwort zu verstehen. Er hörte Orr als «or», und als ich lächelnd den Kopf schüttelte, nahm seine Miene den Ausdruck verlegener Verwirrung an. Ich wollte den Irrtum schon richtig stellen und ihm meinen Namen buchstabieren, doch ehe ich etwas sagen konnte, leuchteten seine Augen wieder auf, und dazu machte er heftige Ruderbewegungen, in der Annahme, ich hätte womöglich «oar» gesagt. Wieder schüt telte ich lächelnd den Kopf. Nun vollends mit seinem Latein am Ende, seufzte Chang laut auf und sagte: «Schreckliche Sprache, dieses Englisch. Zu kompliziert für mein armes Gehirn.» Das Missverständnis blieb bestehen, bis ich das blaue Notizbuch vom Ladentisch nahm und meinen Namen in Blockschrift auf die innere Umschlagseite schrieb. Das schien das gewünsch te Ergebnis herbeizuführen. Nach so viel Mühe ersparte ich es mir, ihm zu erzählen, dass die ersten Orrs in Amerika ursprüng lich Orlovsky geheißen hatten. Mein Großvater hatte den Namen abgekürzt, damit er sich amerikanischer anhöre – so wie Chang sich aus dem gleichen Motiv die dekorativen, aber sinnlosen Initialen M. R. vor den seinen gesetzt hatte.
Ich hatte vorgehabt, in einem Lokal in der Gegend zu frühstücken, aber von den zwanzig Dollar, die ich mir eingesteckt hatte, waren nur noch drei und ein bisschen Kleingeld übrig – das reichte nicht einmal für das Tagesfrühstück zu 2,99 $ , wenn man Steuer und Trinkgeld berücksichtigte. Ohne die Einkaufstüte
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