Lockruf Der Nacht
PROLOG
Dunkelheit legte sich wie im Zeitraffer auf Long Island, während der Wagen mit viel zu hoher Geschwindigkeit für die Wetterverhältnisse die schmale Straße entlangfuhr. Matsch wirbelte seitlich hoch, als die Frau für einen Moment die Kontrolle über den Wagen verlor und von der Fahrbahn abkam. Ihre Knie zitterten unkontrolliert vor Angst, sodass sie das Gaspedal kaum durchtreten konnte.
Ein anderes Fahrzeug mit Fernlicht oder zu hoch eingestellten Scheinwerfern kam auf sie zu. Die Straße vor ihr war für einen Moment wie ausgeblendet. Zusätzlich erschwerte der Regen, der die Windschutzscheibe zeitweise in eine undurchsichtige Wasserwand verwandelte, die Sicht. Sie riss das Steuer nach rechts und der entgegenkommende Wagen schoss hupend an ihr vorbei. Die Straße vor ihr tauchte wieder ins Dunkel, aber das Scheinwerferlicht ihres Verfolgers blendete sie immer noch. Sie kniff die Augen zusammen und klappte den Rückspiegel nach oben. Gleich hatte sie es geschafft, sie brauchte nur auf die Robert Moses Causeway Bridge zu fahren. Dort würde hoffentlich genug Verkehr sein, dass er von ihr ablassen würde.
Ein heftiger Knall ließ sie nach vorne schnellen und mit der Stirn aufs Lenkrad schlagen. Ein kurzer Schmerz fuhr wie ein Blitz durch ihren Kopf. Sie schnappte sich den Gurt, schnallte sich an und griff nach ihrer Tasche auf dem Beifahrersitz. Diese verdammten Beuteltaschen, in denen man nichts fand. Sie kippte den gesamten Inhalt aus und suchte blind zwischen Zahnbürste, Lidschattendosen, Stiften, Notizbuch, Geldstücken und Kamera nach ihrem Handy. Endlich fühlte sie den kalten Gegenstand in ihrer Hand.
Wieder machte ihr Wagen einen Satz nach vorne, dabei flog ihr das Handy aus der Hand und landete im dunklen Fußraum.
Fluchend schlug sie mit der flachen Hand auf ihr Lenkrad.
Zu ihrer rechten Seite, keine dreihundert Meter mehr, konnte sie die beleuchtete Brücke sehen. Die Scheibenwischer fegten auf höchster Stufe den Regen zur Seite und gaben ächzende Geräusche von sich, als wollten sie gleich ihren Geist aufgeben.
Mit dem Fuß suchte sie tastend den Boden nach ihrem Telefon ab, bis sie das harte Gehäuse unter dem Schuh fühlte. Ohne den Blick von der überschwemmten Straße zu nehmen, beugte sie sich vorsichtig nach unten, machte ihre Finger lang und griff danach.
Sie war jetzt auf der Brücke und beschleunigte, während ihre Finger blind die drei Zahlen des Notrufs eintippten und auf Anrufen drückten. Sie sah kurz auf das Display, ob die Verbindung auch aufgebaut wurde, und wagte einen Blick in den Seitenspiegel. Keine Lichter.
Überrascht klappte sie den Rückspiegel wieder in die richtige Position, aber hinter ihr war alles dunkel. Von ihrem Verfolger keine Spur.
Um sich zu vergewissern, dass sie nicht Opfer einer optischen Täuschung war, drehte sie sich um, doch alles blieb dunkel. Erleichtert atmete sie aus und sah wieder nach vorne, als plötzlich Lichter auf sie zuschnellten, Metall aufkreischte und der Wagen an Bodenhaftung verlor. Sie riss das Lenkrad herum, aber zu spät, die Reifen drehten durch und auf einmal hing sie wie bei einem Looping kopfüber in ihrem Sitz. Für einen winzigen Moment fühlte sie sich schwerelos. Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall und ein Rauschen, als wäre sie mitten im Strudel einer tosenden Brandung gelandet.
Wasser drang ins Innere des Wagens ein. Gegen alle physikalischen Regeln versuchte sie, die Wagentür zu öffnen, aber der Druck stemmte seine unsichtbare eiserne Hand dagegen. Das Fenster ließ sich einen Spalt öffnen, dann bewegte es sich weder vor noch zurück. Das Einzige, was sie damit bewirkt hatte, war, dass aus dem Plätschern ein Wasserfall geworden war. Ein dicker, breiter Strahl kalten Wassers ergoss sich in das Cockpit.
Sie versuchte, Ruhe zu bewahren, während der Wagen wie ein U-Boot zu sinken begann.
Ausgerechnet an dieser Stelle schien die Bay tiefer zu sein als an den meisten Stellen, wo die durchschnittliche Tiefe nur zwei Meter betrug. Wie an Schnüren aufgezogene Perlen sah sie die Luftblasen an der Scheibe nach oben wandern.
Langsam kletterte das Wasser hoch zum Hals, kroch ihr bis zur Nase und umschloss sie schließlich mit kalter Hand.
1.
Ich stehe auf einem Berg, fast auf gleicher Höhe mit den schwarzen tief hängenden Wolken. Sie scheinen zum Greifen nahe und lassen diese dunklen, bunkerartigen Gebäude - drei an der Zahl - auf der weitläufigen Ebene unheimlich monströs erscheinen.
Ich bin
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