Nachtblind
natürlich keine Waffe oder so was.«
»Versuchen Sie ja keinen Trick«, sagte Scott. »Wir haben ein Fernsehgerät hier drin, und es ist auf Kanal drei eingestellt.« Er nickte zu einem kleinen Fernseher hinüber, der auf einem Bücherbrett in der Kabine stand.
»Ich bin viel zu nervös für irgendwelche Tricks«, sagte Ginger, und ihrer Stimme war anzuhören, dass sie die Wahrheit sprach. Sie trat durch die Tür in den Verkaufsraum, drehte sich um, baute sich vor der Kamera auf, während Scott hinter ihr durch das schusssichere Glas finster an ihr vorbei auf die Kamera starrte. Der Kameramann fokussierte die Linse auf sie, flüsterte: »Los geht’s … jetzt!«
Ginger sagte: »Meine Damen und Herren, hier spricht Ginger House. Wir befinden uns in einer Amoco-Tankstelle an der I-35 in Minneapolis. Mr. Martin Scott hat sich mit zwei Geiseln in der Kassiererkabine der Tankstelle eingeschlossen. Mr. Scott wird von der Stadtpolizei Minneapolis bezichtigt, in die Morde verstrickt zu sein, die aus Rache für den Mord an Alie’e Maison in der vergangenen Woche begangen worden sind. Mr. Scott hat sich bereit erklärt, Kanal drei im Rahmen der Sendung Good Morning ein Exklusivinterview zu geben. Wie geht es Ihnen, Mr. Scott?« Lächelnd wandte sie sich Scott zu, hielt das Mikrofon vor das Sprechgitter, trat ein Stück zur Seite. Scott lächelte zurück und sagte: »Nun, Ginger, ich bin heute Morgen sehr beschäftigt, wie Sie sehen …«
»Ach du heilige Scheiße«, murmelte Lucas vor sich hin. Er drehte sich um und schaute zu der wachsenden Menge hinüber. Die wütenden Rufe der anderen Fernsehleute dauerten an, waren bis hierher zu hören. »O Gott …«
Das Interview dauerte zehn Minuten, und Lucas fand, dass Scott keine schlechte Figur machte. Er erklärte die Morde aus seiner Sicht schlüssig, rechtfertigte sie: Plain hatte Alie’es Tod kaltblütig ausgebeutet, indem er noch in der Nacht ihrer Ermordung Nacktfotos von ihr verkauft hatte; Alie’es Eltern waren schuld daran, dass sie mit Drogen in Berührung gekommen und in eine abwegige Sexualität abgedriftet war; und Spooner war natürlich der Unmensch, der Alie’e ermordet hatte.
Am Ende des Interviews fragte Ginger: »Darf ich den Geiseln eine oder zwei Fragen stellen?«
»Natürlich, bitte sehr …«
Die junge Frau hieß Melody. »Wir sind äußerst korrekt behandelt worden, weitaus besser, als ich anfangs befürchtet hatte«, säuselte sie mit einem undefinierbaren Akzent. »Mr. Scott hat sich als Gentleman erwiesen.« Dann winkte sie mit dem kleinen Finger in die Kamera. Die andere Geisel, ein dunkelhaariger junger Mann namens Ralph, sagte: »Ich will einfach nur raus hier. Ich habe Unterricht heute Morgen – wir schreiben einen Test.«
Als Ginger und der Kameramann an den Zapfsäulen vorbei zurück zur Absperrung gingen, schwollen die wütenden Rufe der anderen Medienvertreter erneut an. Lucas beugte sich wieder in den Verkaufsraum und sagte zu Scott: »So, jetzt hatten Sie Ihren Auftritt vor der Öffentlichkeit. Wenn Sie jetzt eine der Geiseln umbringen, werden alle Leute erkennen, dass Sie nur Scheiße geredet haben und dass Sie nichts als ein verdammter Schwindler sind.«
»Ich muss nachdenken …«, murmelte Scott.
Und Melody, die junge Frau, sagte zu Lucas: »Bitte holen Sie mich raus hier.« Und zu Scott: »Bitte, bitte, lassen Sie mich gehen.«
»Das kann ich noch nicht«, sagte Scott. Er sah Lucas an. »Es muss doch noch mehr als das geben …«
»Es gibt nicht mehr als das, Martin«, sagte Lucas. Er deutete auf die Menge draußen, auf die Kameras. »Sie haben gerade zur ganzen Welt gesprochen.«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Es muss doch noch mehr
geben …«
Lucas seufzte, sah sich um, sagte dann: »Okay. Vielleicht gibt es ja tatsächlich noch was.«
»Was?«
»Ich bin gleich zurück.«
Er stapfte zur Absperrung. Rose Marie fragte: »Was ist los?«
»Wir kommen zum Ziel, denke ich. Aber es ist, als ob man eine gottverdammte Schnecke mit bloßen Fingern aus ihrem Haus zerren müsste.« Er entdeckte Jael, ging zu ihr hin. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten«, sagte er zu ihr.
Sie gingen zusammen zur Tankstelle, und Jael sagte: »Ich fürchte, ich werde in die Hose pinkeln.«
»Das wäre toll«, meinte Lucas. »Millionen von Zuschauern sehen, wie’s zwischen deinen Beinen feucht wird …«
»Ein echter Horrortrip, wie?«
Lucas lehnte sich wieder durch die Außentür. »Mr. Scott, ich bin
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