Nachtjaeger
einen kalten Schauder über den Rücken jagte.
Wenn sie dich finden … Lauf.
Es waren die Worte ihrer Mutter – eine Warnung, die sie täglich bis zu ihrem Tod wiederholt hatte. Eine Warnung ohne Erklärung, eine Warnung, die bei Jenna einen wahren Verfolgungswahn und ein großes Misstrauen Fremden gegenüber ausgelöst hatte. Dieses Misstrauen reichte so tief, dass sie bisher noch nie wirklich Freunde gefunden hatte.
Sie dachte daran, dass ihre Mutter im Laufe ihres Lebens viele seltsame Dinge gesagt hatte, die Jenna nicht verstand. Und dass sie viel getrunken hatte. »Du hast einfach nur Hunger«, murmelte sie vor sich hin, was den verschwitzten Metzger dazu brachte, fragend die Augenbrauen hochzuziehen. »Du bist einfach nur hungrig und wahrscheinlich übermüdet, und außerdem herrschen hier mindestens tausend Grad. Reiß dich also zusammen.«
Sie machte sich auf den Weg zur Kasse, wo sie sich hinter einem Mann einreihte, der so dick war, dass sie sich kaum vorstellen konnte, wie er durch den Gang passen sollte, ohne die Zeitschriften und Süßigkeiten auf den Regalen zu beiden Seiten herunterzureißen. Sie legte ihre Sachen auf das Band, ehe sie sich umdrehte und den großen Kühlschrank mit den gekühlten Getränken öffnete, der zwischen ihrem Gang und dem nächsten stand. Sie wählte eine Plastikflasche mit Cola, da es keine Milch gab – keine Vollmilch –, was ihre zweitliebste Nahrung nach Steak war.
Als sie die Tür schloss und sich zur Kasse umdrehte, schien die Luft auf einmal anders zu sein. Sie kam ihr wie aufgeladen und so schwer vor, dass sie es bis in die Knochen spürte.
Zum zweiten Mal stellte ein plötzlicher Stromschlag die Härchen auf ihren Armen und in ihrem Nacken auf. Er jagte eine Schockwelle durch sie hindurch, als ob sie von einem Feuerspeer getroffen worden wäre. Einen Moment lang hielt sie die Luft an. Der gewaltige Mann vor ihr warf ihr einen lethargischen Blick zu, während ein unheimlicher Gedanke durch ihren Kopf schoss.
Ich sehe dich, flüsterte die Welle in ihr. Ich weiß, was du bist.
Sie erbebte. Ihre Finger klammerten sich so fest um die Plastikflasche in ihrer Hand, dass sie kaputtging. Eine Fontäne aus Cola schoss heraus. Die kalte, klebrige Flüssigkeit ergoss sich über ihr Handgelenk und ihre Finger. Ebenso wie über das Regal mit den Magazinen und den Süßigkeiten.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie der jungenhafte, attraktive Kassierer und warf einen Blick auf die kaputte Plastikflasche in ihrer Hand. Er runzelte die Stirn. In seinen klaren, blauen Augen spiegelte sich Überraschung wider. »Sie haben aber einen ganz schön kräftigen Griff, Miss.«
»Sie muss schon vorher kaputt gewesen sein«, erwiderte Jenna mit zusammengepressten Lippen. »Wahrscheinlich kam sie schon so ins Regal.«
Ihr war das Blut aus dem Gesicht gewichen. Der gewaltige Mann vor ihr starrte sie nun regungslos und neugierig an. Er lugte unter seinen buschigen Augenbrauen hervor, die wie haarige Raupen auf seiner Stirn saßen, und musterte ihr blasses Gesicht und ihre zitternden Hände. Die Cola tropfte noch immer auf den Boden, wo sie allmählich eine große, klebrige Pfütze auf dem beigefarbenen Linoleum bildete.
Der Kassierer drückte auf einen Knopf und sprach dann in ein Mikrofon. Seine Stimme war im ganzen Supermarkt zu hören. »Aufwischen an Kasse fünf.«
Jenna trat ein paar Schritte vor, wobei sie sich bemühte, mit ihren weißen Sandalen nicht in die klebrige Lache zu treten, die inzwischen wie geronnenes Blut aussah. Das Gefühl unmittelbarer Gefahr war so stark, dass sie sich zwingen musste, nicht einfach loszurennen.
Da ihr der gewaltige Mann inzwischen wieder den Rücken zugewandt hatte und der Kassierer damit beschäftigt war, einem Kunden sein Wechselgeld zu geben, und da keiner der anderen Kunden in der Schlange hinter ihr wissen konnte, was sie tat, schloss sie die Augen und öffnete ihre Sinne. Sie dehnte ihre Wahrnehmung wie eine größer werdende Blase in großen, konzentrischen Kreisen aus, die alles um sie herum aufnahmen.
Das leise Surren der Klimaanlage flüsterte in den Stahlventilatoren über ihrem Kopf. Kaum hörbares Quietschen von Schuhsohlen auf dem Linoleum. Noch leiseres Knarzen von Leder. Gedämpftes Klimpern von Münzen in einer Hosentasche im hinteren Teil des Supermarkts. Ein Streit in der Feinkostabteilung – Ich kriege nie das, was ich will, nicht mal in diesem verdammten Laden –, fauchend durch zusammengebissene Zähne. Der Blick
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